Archiv der Kategorie: Demokratie

Demütigung als Volkssport

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„Der FC Bayern demütigt den BVB“. Eine solche Überschrift gab es nicht als ich jung war. Damals hieß es: Die Bayern gewannen wieder einmal oder haushoch. Warum muss heutzutage alles und jeder per Schlagzeile gedemütigt werden? Alternativ wird auch gerne gegrillt oder geröstet, beispielsweise bei Markus Lanz. Ist das ein deutsches Phänomen, weil wir Deutschen so gerne am Grill stehen?

Als ich vor ein paar Tagen einen Artikel zum Thema Demut schrieb, wurden mir auf meiner Lieblings-Grafiken-Seite kein einziges Bild zu Demut, stattdessen lauter Bilder zu Demütigung angeboten. Demütigung ist anscheinend in. Mein Demut-Bild fand ich erst, als ich „beten“ eingab.

Doch was soll das? Warum sind Demütigungen so in geworden? Hat der digital klickende Mensch eine solche Lust darauf zuzusehen, wie Alice Weidel anscheinend mal wieder jemanden im Bundestag grillt? Meist sind das ja die langweiligsten Videos von allen. Oder sich über die Versprecher von Annalena Baerbock zu erheben? Haben wir vergessen, dass auch frühere deutsche Außenminister nicht gerade unpeinliches Englisch beherrschten? Und zahlt sich das Clickbaiting der Videos und Schlagzeilen am Ende noch aus? Aber warum müssen Personen persönlich angegriffen werden, wenn sie eine andere Meinung haben?

Wir können die mediale Welt der effektheischerischen Übertreibungen wohl nicht ändern. Zumal Demütigungen leider zu gut zu unserer Entwicklung zu einer Schamkultur passen. Wir können jedoch Nein sagen zu Videos und Schlagzeilen, in denen wieder einmal jemand vorgeführt und gedemütigt werden soll.

Wofür wir lernen sollten, wieder demütiger zu sein

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Passt das? Demut zu haben im Beruf? Und passt Demut überhaupt noch in unsere schnelllebige Zeit?

Auf den ersten Blick erscheint der Begriff der Demut aus der Zeit gefallen. Demut klingt nach Selbsterniedrigung und schmerzenden Knien in der Kirchenbank. Und das in einem Land mit stetig rückläufigen Zahlen bei den klassischen Kirchen.

Zusätzlich nutzen wir den Begriff so gut wie nie. Aus gutem Grund. Wer von sich behauptet, er wäre demütig, präsentiert dies bereits als Eigenschaft in einem leicht stolzen Unterton. Demut lässt sich daher eher zeigen – dazu später mehr. Darüber sprechen ist schwer. Auch wer zu viel Gottesfürchtigkeit zeigt, könnte in die Demutsfalle tappen. Schließlich ist es nicht gerade ein Zeichen großer Demut, dass wir als Mensch davon ausgehen als Abbild Gottes geschaffen worden zu sein.

Der Dämon des Stolzes

Stattdessen scheinen viele von uns von der Todsünde des Stolzes befallen zu sein. Wir präsentieren uns in diesem neoliberalen und neokapitalistischen System stets von unserer besten Seite – insbesondere in den digitalen Medien – und machen sogar Schwächen zu Stärken:

  • „Was können Sie nicht so gut?“
  • „Wenn ich mich in was fest gebissen hab, muss ich mich manchmal ganz schön zügeln mit meinem Arbeitseifer. Manchen meiner Kolleg*innen im letzten Job ging das ein wenig zu weit. Ich wäre übereifrig, hieß es dann.“

Subtext: „Und darauf bin ich insgeheim ziemlich stolz. Weil das, wir wir beide wissen, in Wirklichkeit eine Stärke ist.“

Doch nicht nur in der Arbeit, auch gesellschaftlich sind wohl viele von uns ein wenig zu stolz geworden. Was waren wir nicht schon alles in den letzten Jahren: Virolog*innen, Kriesexpert*innen, Bundestrainer*innen, usw.

Persönliches Intermezzo

Mein eigener kleiner Stolz-Dämon flüstert mir regelmäßig ein, dass ich mich im Notfall nur auf mich selbst verlassen kann. Als Freiberufler ist das eine große Stärke. Ich habe zwar auch ein großes Netzwerk mit wunderbaren Kolleg*innen, die mir den Rücken für meine Trainings freihalten, indem sie mit Kund*innen Verträge schließen, Termine vereinbaren, Hotels buchen, Skripte verschicken und mir Rückmeldungen nach Seminaren geben, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Aber vor Ort in meinen Trainings gibt es niemanden, den ich fragen könnte, wenn es Probleme gibt. Hier bin ich komplett auf mich gestellt.

Es ist allerdings schwierig, dieses Muster auf andere Situationen und Lebensbereiche zu übertragen. Gratis-Tipp: Nicht machen! Bereits in Seminaren gibt es immer Menschen, die zu einem bestimmten Wissensgebiet mehr wissen als ich. Und im privaten Bereich kenne ich mich nicht wirklich mit Krankheiten und Genesung aus. OK. Ein wenig schon. Aber für Spezialgebiete wie Magen-Darm-Geschichten gibt es Expert*innen. Hier ist also Demut angesagt.

O-Ton meiner Frau, wenn ich in Diskussionen zu wissend daher rede: „Du bist zuhause und nicht mehr im Trainer-Modus“.

Demut als Mut nach innen

Vermutlich sind Sie ebenso wie ich schon über diese seltsame Konstruktion von De und Mut gestolpert. Was hat Demut bitteschön mit Mut zu tun?

Bei mutigen Menschen denken wir wohl eher an Mel Gibson in Braveheart oder eine namenlose Retterin, die ein kleines Mädchen von den Bahngleisen einer U-Bahn rettete. Wir denken an Zivilcourage oder an ein freches Mundwerk, was negative Konsequenzen nach sich ziehen kann. Ich selbst denke daran, dass ich die Abschlussrede unseres Uni-Semesters hielt, vermutlich weil ich es nicht aushielt, dass sich niemand dafür meldete. Ich denke an das Wagnis meiner Selbständigkeit vor 18 Jahren. Und ich denke über mein erstes großes Buchprojekt für Metropolitan nach – passenderweise ein Buch mit dem Titel „Provokantes Führen“.

Demut hingegen ist Mut nach innen. Ich erkenne, dass ich unvollständig bin und jemanden brauche, der mich und mein Wissen oder Können ergänzt. Das Prinzip der Dualität: Mann – Frau, Führung – Angestellte, gesetzt – ungestüm, erfahren – neugierig, usw.

Demut ist daher nicht nur mit der Selbsterkenntnis verbunden, alleine in vielen Situationen nicht gut genug zu sein. Sondern logischerweise auch mit den damit verbundenen Kränkungen.

Unser Ego gaukelt uns selbst und der Welt vor, wie toll wir sind. Doch eigentlich brauchen wir andere Menschen, um noch toller zu sein.

Wofür wir Demut brauchen

Eines klang schon an. Demut macht uns umgänglicher. Wir erhöhen damit nicht uns selbst, sondern unser Gegenüber. Daher ist Demut eng verbunden mit einem echten Interesse an anderen Menschen.

Zudem kann nur ein demütiger Mensch Feedback annehmen, eigene Fehler erkennen und daraus lernen. In Folge dessen kann nur ein demütiger Mensch ehrlich Danke sagen für ernst gemeinte Rückmeldungen.

Und: Demut hilft uns dabei, zu erkennen, dass wir Hilfe brauchen und diese auch annehmen können. Insofern besteht der ganze Mensch nicht nur aus sich selbst, sondern entsteht im Zusammenspiel mit anderen Menschen.

Literatur:

André Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben: Ein kleines Brevier der Tugenden und Werte

Wie umgehen mit dem Motivationsknick junger Mitarbeiter*innen?

Es steht schlecht um die Motivation vieler Mitarbeiter*innen. So zumindest lautet die ein oder andere Aussage in meinen Führungstrainings. Das Thema Motivation war lange Zeit kein wirkliches Thema. Jetzt steht es allerdings wieder ganz oben auf der Agenda oder auch auf der Frustrationsliste vieler Führungskräfte (siehe auch hier).

Grund genug, sich dieses schwierige Thema genauer anzusehen. Warum also sind viele Mitarbeiter*innen eher unmotiviert?

Ein Schlüssel zu möglichen Lösungsansätzen bietet uns der Begriff des Willens. Wer in einem Lexikon für Synonyme den Begriff Willen eingibt, stößt neben dem Begriff der Motivation auf eine Vielzahl anderer Begriffe. In eine Ordnung gebracht, könnte diese so aussehen:

Ein Mensch setzt sich erst handelnd in Bewegung, wenn er …

  1. … einen inneren Antrieb hat, etwas zu tun. Er braucht also Energie, Motivation, Lust und das Potenzial dazu. Ob ich einen inneren Antrieb habe oder wenn nicht, warum das so ist, ist eher spürbar als bewusst.
  2. Als zweites braucht er eine Bewusstheit über seine möglichen Handlungen. Er kann sich seine Wünsche vorstellen, eine Vision von einer veränderten Zukunft haben und einen entsprechenden Plan zur Umsetzung aufstellen.
  3. Bei der Umsetzung seines Willens braucht er Beharrlichkeit, Ausdauer und Geduld, insbesondere um innere, oftmals unbewusste Widerstände wie Aufschieberitis oder Zweifel anzugehen. Oft braucht es auch ein Gespür für den passenden Moment.
  4. Und schließlich verlangt die Durchsetzung des eigenen Willens im Umgang mit äußeren Widerständen Mut, Durchsetzungskraft und evtl. Verhandlungsgeschick.

Oder wie es der Philosoph Peter Bieri formuliert: Es braucht den Wunsch etwas zu tun, die Überzeugung, dass ich es tun kann, die Überlegung, wann ich meinen Wunsch in die Wirklichkeit umsetzen kann und die Bereitschaft zu handeln, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

Übertragen wir diese vier verschiedenen Ansätze auf unmotivierte Mitarbeiter*innen, stellt sich die große Frage, woran das, was wir bislang der Einfachheit halber Motivation nannten eigentlich scheitert:

  1. Fehlt es grundsätzlich an der Energie, ins Handeln zu kommen? Wenn ja, woran liegt das?
  2. Liegt es an einer konkreten Vision, die dem Handeln vorausgehen sollte, um es zu einem gewollten Handeln zu machen?
  3. Liegt es am Durchhaltevermögen, etwas Angefangenes so sehr zu wollen, dass es auch zu Ende gebracht wird?
  4. Oder liegt es an der Durchsetzungskraft, das Gewollte gegen äußere Widerstände zu verteidigen?

Am vierten Punkt scheint es mir nicht zu liegen. Gerade junge Menschen lernen i.d.R. in der Schule mehr als früher, wie man oder frau für sich einsteht und sich und seine Pläne gut verkauft. Konzentrieren wir uns daher auf die anderen drei Punkte:

  1. Während frühere Generationen noch eine Aufbruchstimmung mitbrachten (Stichworte: Ich-AGs, das Internet demokratisiert die Welt, usw.), hat die Energie in den letzten Jahren stark gelitten. Die Nachrichten suggerieren uns überdeutlich, dass die Welt als Gesamtes nicht mehr zu retten ist. Das Prinzip, dass nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, wurde in der Digitalisierung perfektioniert. Das jedoch prägt die Stimmung junger Menschen enorm: Warum soll ich mich bemühen, wenn wir sowieso am Abgrund stehen? Eine Es-gibt-keine-Alternative-Politik und Algorithmen, die uns im Sinne eines quasi unvermeidlichen Determinismus Entscheidungen abnehmen, sind hierbei sicherlich nicht hilfreich.
  2. An dieser Stelle muss der Begriff der Bürokratie fallen. Selbst wenn die Energie zu einer Handlung vorhanden ist, merken Mitarbeiter*innen schnell, ob echte, willensgesteuerte Handlungen überhaupt möglich bzw. gewollt sind. Macht ein Unternehmen beispielsweise eine Mitarbeiterumfrage, während anschließend weder eine Rückmeldung noch Veränderung erfolgen, hat es sich mit der Motivation in der Belegschaft schnell erledigt. Wenn der Satz „die betrieblichen Umstände ließen es nicht zu“ regelmäßig als Argument eingesetzt wird, braucht es auch kein Lamentieren über eine mangelnde Motivation.
  3. Auch hier hat sich über die Jahrzehnte hinweg etwas Entscheidendes verschoben. Viele unge Menschen wollen heute nicht mehr wie früher in die Tiefe einer Tätigkeit eindringen. Es reicht ihnen oftmals, Tätigkeiten grob zu verstehen. Die Beharrlichkeit, die ältere Generation noch hatten, hat offensichtlich deutlich gelitten.

Was also lässt sich dem entgegen setzen:

Handlungsfeld Innerer Antrieb

  • Eine differenzierte Sichtweise: Vielleicht geht die Welt wirklich eines Tages unter. Dennoch macht es einen Unterschied, ob das Morgen ist oder in 50 Jahren. Auf Unternehmen übertragen macht es auch einen Unterschied, ob wir uns engagieren oder nicht. Hier lässt sich beispielsweise mit der Szenariotechnik arbeiten: Was wäre, wenn wir komplett unmotiviert sind? Was wäre, wenn wir uns gerade mal so engagieren? Und was passiert, wenn wir uns mächtig ins Zeug legen? Welche Szenarien sind dann wahrscheinlich? Selbst wenn die Spielräume gering sind: Die Zukunft ist nicht vorbestimmt.
  • Fokus auf Mögliches: Gleichzeitig macht es einen Unterschied, ob ich mich – bis zum Weltuntergang – dennoch engagiere oder nicht. Wenn schon nicht für die eigene Würde, so macht es zumindest bei der Erfüllung von Aufgaben einen Unterschied, ob ich mich auf das konzentriere, das mich frustriert oder darauf, was sofort und ohne Unterstützung anderer umgesetzt werden kann.
  • Der persönliche Unterschied, der einen Unterschied macht: Führungskräfte sollten in diesem Sinne auch Mitarbeiter*innen selbst ab und an die Rückmeldung geben, dass es einen positiven Unterschied macht, dass sie da sind.
  • Gut sein versus richtig gut sein: Der Impuls junger Menschen, viel Neues kennen zu lernen und daher schneller zu wechseln zwischen Tätigkeiten und Jobs ist vor dem Hintergrund ihres Aufwachsens mit digitalen Medien nachvollziehbar. Gerade deshalb sollte ihnen die Frage gestellt werden, was sie wirklich wollen: Gut sein oder wirklich gut sein? Wer gut ist, kann eine Aufgabe gut erfüllen. Wer jedoch wirklich gut ist, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit Karriere machen. Auch wenn die Lust zu Führung und Karriere bei vielen jungen Menschen nicht mehr vorhanden ist, vielleicht lässt sie sich dennoch bei der ein oder dem anderen wieder erwecken. Immerhin macht es einen riesigen Spaß, eine Tätigkeit wirklich zu durchdringen. Das wiederum erfordert nun mal Blut, Schweiß und Tränen.

Handlungsfeld Ideen der Mitarbeiter*innen

  • Bürokratie abbauen: Wenn jüngere Menschen fragen, warum etwas so getan werden muss wie es getan wird, braucht es für die Antwort darauf mindestens ein gutes Argument. Andernfalls könnte es sich um eine Regel handeln, die sich überlebt hat. Solche Regeln lassen sich auch systematisch überarbeiten mit der Kill-a-stupid-rule-Methode (externer Link).
  • Ideen ernst nehmen: Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter*innen nur nach deren Meinung fragen, wenn sie die Antworten auch verwerten. Natürlich ist Mitarbeit kein Wunschkonzert. Führungskräfte sollten sich deshalb sehr gut überlegen, wo ein Mitdenken wirklich erwünscht und möglich ist und wo nicht.
  • Konzepte der Mitgestaltung nutzen: Mitarbeiter*innen wollen i.d.R. nicht bei allem mitsprechen, sondern lediglich ein wenig. Wenn es jedoch möglich und gewollt ist, braucht es strukturierte Konzepte, um einen tragfähigen Gruppenkonsens zu finden. Eine solche Methode ist das Systemische Konsensieren (externer Link). Das Systemische Konsensieren nutze ich u.a., wenn es in Teams um die Nutzung von Räumlichkeiten geht.

Handlungsfeld Durchhaltevermögen

  • Beharrlichkeit trainieren: Beharrlichkeit, Durchhaltevermögen und Ausdauer lassen sich auch im Alltag trainieren, begonnen bei Kleinigkeiten, beispielsweise solange bei einer Aufgabe zu bleiben, bis ein zuvor eingestellter Wecker klingelt, Stichwort: Pomodoro-Technik. Solche Techniken sind häufig Teil von Zeitmanagement-Trainings, die im Zuge der Motivationsthematik in den letzten Jahren eine Renaissance bekamen.
  • Präsente Führung: Die Präsenz in der Führung hat durch das Homeoffice stark gelitten. Derzeit gibt es jedoch den Trend, zurück an den Arbeitsplatz zu kommen, v.a. weil die Beteiligten merken, dass die Bindung auf Distanz zu sehr leidet. Dies bietet auch Führungskräften die Möglichkeit, wieder mehr physische Präsenz zu zeigen, indem sie mit echter Neugier insbesondere junge Mitarbeiter*innen begleitet. Dies erfordert sicherlich bei dem ein oder anderen Fall eine Menge Geduld, zahlt sich jedoch langfristig aus.

Wie sehen also: Unmotivierte Mitarbeiter*innen sind zwar anstrengend, es gibt jedoch eine ganze Menge Möglichkeiten, damit umzugehen.

Literatur:

Peter Bieri – Das Handwerk Freiheit

Piero Ferrucci – Werde was du bist

Die erschöpfte Gesellschaft und der Aufstieg „Sozialer Unternehmen“

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Symptome einer erschöpften Gesellschaft

Die Bevölkerung ist erschöpft, sagt der bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann (externer Link). Als Grund dafür macht er eine Art gesellschaftliche posttraumatische Belastungsstörung aus. Eine Art deshalb, weil sich die Erkrankung einzelner nicht auf eine ganze Gesellschaft übertragen lässt. Dennoch ist das Bild der PTBS hilfreich, um zu verstehen, warum sich viele Menschen derzeit erschöpft fühlen und ins Private zurückziehen (externer Link).

Die Symptome einer PTBS lauten:

  • Wiedererleben: Nach der Krise ist vor der Krise: Nach Corona kam der Krieg, damit einhergehend erhöhte Heizkosten, dann die Folgen des Klimawandels, usw.
  • Verdrängen: Wie gezeigt fliehen viele Menschen vor aktuellen Krisen ins Private. Familie und Freundschaften werden wieder wichtiger.
  • Ein Gefühl ständiger Bedrohung: Nicht nur die Krisen sind omnipräsent in Funk und Fernsehen, auch die Auswirkungen auf das eigene Leben sind es. Während Corona griff der Staat direkt in das Leben der Bürger*innen ein. Und heute geht der Spuk um den Abstieg Deutschlands um, wodurch auch der eigene Job gefährdet sein könnte, die Digitalisierung könnte uns von unserer Arbeit und unseren Kolleg*innen entfremden (siehe hier), KI-Lösungen bedrohen Arbeitsplätze ebenso, die Lebenshaltungskosten wurden teurer, usw.

Die Erschöpfung ist jedoch nichts spezifisch Deutsches. Auch nach der aktuellen Wahl in Spanien (Juli 2023) hatten die Menschen anscheinend genug von den stetigen Veränderungen und wünschten sich wieder etwas mehr Konservatismus.

Umgang mit einer PTBS in der Gesellschaft

Laut Hurrelmann müssen die Symptome zuerst einmal ernst genommen werden. Die physischen Folgen von Corona (Stichwort: Long-Covid-Plakate) werden angegangen. Auf der psychischen und sozialen Seite scheint es immer noch zu hapern. Während die psychischen Folgen nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen aufgrund der Pandemie und dem Umgang damit in den Hochzeiten von Corona als Unkenrufe von Traumatherapeut*innen abgetan und ungern gehört wurden, werden die psychischen Folgen auch heute noch unterschätzt. Problematisch dabei ist die Messbarkeit psychischer Probleme. Einen einfachen Test wie bei Corona gibt es dafür nicht.

Desweiteren braucht es laut Hurrelmann mehr Kohärenz, d.h. konkret:

  1. Ein Verstehen der Situation: Warum gehen die Preise hoch? Warum sollten wir welche Prozesse bei uns digitalisieren? Usw.
  2. Handlungskompetenz: Was kann ich selbst konkret tun?
  3. Sinnhaftigkeit des Handels: Macht es einen Unterschied, wenn ich so oder so handle? Was bringt mein Handeln am Ende?

Wenn einseitiger Optimismus erschöpft

Oft wird behauptet, dass wir in einem Land leben, in dem es immer mehr Verbote gibt: Du darfst nicht mehr so viel heizen, die Beweggründe des russischen Einmarschs nicht verstehen, sollst nicht mehr so viel Fleisch essen, usw. Wir kennen das alles. Was wäre jedoch, wenn wir stattdessen eher in einer Kultur leben, die das optimistische alternativlose Ja-Sagen propagiert und es damit letztendlich ein wenig übertrieben hat: Ja zu Corona-Maßnahmen. Ja zur Unterstützung der Ukraine. Ja zu den Maßnahmen gegen den Klimawandel. Auch die Sparte von New Work namens Feelgoodmanagement ist ein einziges großes Ja.

Optimismus ist wichtig, gerade im Umgang mit Krisen. Aber es gibt auch Grenzen, wenn der Optimismus als zu viel wahrgenommen wird.

Zudem sind auch vermeintlich „negative“ Emotionen wichtig in unserem Leben. In einer Studie von 1997 ließ der Psychologieprofessor James Gross 180 Frauen in zwei Gruppen traurige, emotionale und neutrale Filme anschauen. Die erste Gruppe sollte keine Gefühle zeigen. Die zweite Gruppe durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Gruppe 2 war daraufhin wesentlich begeisterter von den Filmen. Gruppe 1 jedoch war erschöpfter.

Daraus lässt sich lernen, dass es nicht nur darum gehen sollte, Menschen in Veränderungen mitzunehmen. Auch Ärger und Enttäuschungen brauchen einen Raum, um gehört zu werden, damit Veränderungen einen nachhaltigen Erfolg haben.

Vielleicht liegt die Erschöpfung also tatsächlich auch in unserem dauerhaften Ja-Sage-Modus, während die Bedenken und Sorgen oftmals zu wenig ernst genommen werden.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“

Was bedeutet nun all das für Unternehmen, abgesehen davon dass sich das Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ auch in meinen Seminaren seit über einem Jahr zu einem „Trend“ entwickelte?

Interessanterweise stellte die Deloitte Human Capital Trendstudie (externer Link) bereits 2018 den Aufstieg „Sozialer Organisationen“ fest. Ein soziales Unternehmen verbindet die Ziele Wachstum und Gewinn mit der Notwendigkeit, die Umwelt und ihre Belegschaft ebenso zu fördern. Es geht also nicht mehr um Agilität und Kundenfreundlichkeit über alles, sondern auch um Werte wie Nachhaltigkeit und Mitarbeiter*innenorientierung.

Der Aufstieg „Sozialer Organisationen“ hat drei große Treiber:

  1. Wertewandel: Kund*innen von heute kaufen nicht nur ein Produkt, sondern ein ganzes Wertepaket. Und junge Bewerber*innen achten ebenso mehr als früher auf die sozialen und umweltverträglichen Werte eines Unternehmens.
  2. Unternehmen statt Politik: Das Vertrauen in die Politik ist auf einem Tiefpunkt angelangt. Was sich bereits 2018 ankündigte, hat sich durch Corona, den Krieg, den Klimawandel, etc. nur noch verschärft. Von Unternehmen wird erwartet, dass sie dieses Führungsvakuum füllen und sich klar zu Fragen der Diversity, Nachhaltigkeit, Gesundheitsversorgung und Cybersicherheit positionieren.
  3. Schnelligkeit als Belastung: Viele Menschen haben das Gefühl, dass „Science Fiction“ bereits „Science Fact“ ist. Der technologische Wandel verläuft rasant und bringt unvorhergesehene Auswirkungen für jede/n Einzelne/n mit sich. Das Menschliche bleibt da bisweilen auf der Strecke.

In Verbindung mit der grassierenden Erschöpfung lässt sich hier der Schluss ziehen, dass Unternehmen auch im Umgang mit einer Art PTBS eine Verantwortung haben oder sich dieser zumindest bewusst werden sollten, um die Lücke zu füllen, die gesellschaftspolitisch offensichtlich nicht gefüllt werden kann. Und damit ist keine Ersatztherapie gemeint, sondern lediglich die Möglichkeit, sich über soziale und psychische Belastungen in seinen Teams auszutauschen.

Auf dem Weg zu einer humanen Digitalisierung

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In vielen Unternehmen ist die Digitalisierung weit vorangeschritten, in anderen wird immer noch gefremdelt. Dies liegt insbesondere an branchenspezifischen Einstellungen der Menschen. Eine Studie von Sebastian Wörwag gibt Aufschluss darüber, was unterschiedliche Branchen erwarten und befürchten.

Stimmungs-Status-Quo in verschiedenen Branchen

Grob zusammengefasst erwartet die IT-Branche mehrheitlich Positives von der Digitalisierung:

  • weniger Routineaufgaben
  • mehr (kreative) Freiräume, erst recht durch KI
  • und damit auch die Zunahme spannender Arbeit

In der Finanzbranche sieht es schon anders aus. Hier wird erwartet, dass …

  • zwar einerseits Routineaufgaben abgenommen werden, bspw. durch Chatbots,
  • andererseits jedoch Standardisierungen zunehmen und damit auch persönliche Entscheidungsfreiräume wegfallen.

Die Sozialen und Gesundheits-Berufe stehen der Digitalisierung besonders skeptisch gegenüber. Hier wird erwartet, dass digitalisierte Prozesse in diesen Berufen wenig bis gar nichts bringen. Ehrlicherweise muss man auch festhalten, dass eine Tätigkeit wie die Pflege an sich kaum digitalisiert werden kann. In ferner Zukunft könnten evtl. Pflegeroboter zum Einsatz kommen. Bis dahin bezieht sich die Digitalisierung von Prozessen v.a. auf Verwaltungstätigkeiten im Hintergrund.

Die Bildungsbranche wiederum erwartet v.a. mehr Freiräume für die Lehre und Forschung durch die standardisierte Digitalisierung von Prozessen, bspw. bei Laboruntersuchungen, die 1000 mal durchgeführt werden müssen.

Und in der Öffentlichen Verwaltung schließlich scheint eine Art Gleichmut vorzuherrschen: Während auf der einen Seite mehr Routineaufgaben erwartet werden, werden auf der anderen Seite digitale Hintergrund-Prozesse eingeführt, um die eigene Arbeit zu erleichtern. Damit halten sich Befürchtungen und Begeisterung die Waage.

Kreativität versus Digitalisierung

Ein Schlüssel zur Akzeptanz digitaler Prozesse ist definitiv die Einschätzung der Notwendigkeit von Kreativität in der eigenen Arbeit. Hier ergab die Untersuchung von Wörwag Erstaunliches:

  • Während die Notwendigkeit von Kreativität im Sozialen Bereich (18%) und Gesundheitsbereich (27%) am höchsten von allen untersuchten Branchen eingeschätzt wird (Durchschnitt aller Branchen 14%),
  • liegt sie im Bereich Bildung und Forschung bei überraschenden 10%. Um es noch einmal klar zu verdeutlichen: Die befragten Angestellten gaben lediglich zu 10% an, dass Kreativität in Lehre und Forschung wichtig ist.
  • Selbst die Öffentliche Verwaltung (15%) und das Finanzwesen (13%) liegen hier höher.
  • Noch extremer ist es in der IT. Hier gaben 0% an, dass Kreativität in ihrer Arbeit erforderlich ist. Daraus lässt sich auch erklären, warum KI in der IT so wichtig erscheint, was mich als Nicht-IT-ler erstaunt: Es scheint oftmals weniger um neue Ideen zu gehen, sondern mehr um die Umsetzung von Routine-Programmierungen oder die Wartung vorhandener Systeme.

Da jedoch digitale Prozesse, insbesondere KI und die Arbeit mit Algorithmen, bereits vorhandene Daten nutzen oder analoge Prozesse digital standardisieren, werden sie nicht damit verbunden, etwas Neues in die Welt zu bringen. Es geht also nicht darum, mit einer neuen Situation kreativ umzugehen.

Je wichtiger folglich für ein/e Mitarbeiter*in – unabhängig von der Branche – Kreativität ist, desto mehr wird er oder sie die Digitalisierung ablehnen, weil mit der Digitalisierung eher eine Standardisierung verbunden ist, in der Freiräume mehr beschnitten als gefördert werden.

Eine Faustformel zur Digitalisierung von Prozessen

Der Vergleich der Branchen zeigt deutlich, dass jede Branche anders bei der Digitalisierung tickt. Umso wichtiger ist es, nicht in einen Machbarkeitswahn zu verfallen, sondern sich genau zu überlegen, wann die Digitalisierung von Prozessen sinnvoll ist.

Im Sinne einer humanen Arbeit kann eine Faustformel (mit fünf Fingern) dazu lauten:

  1. Sinnvoller Zweck und Nutzen: Worin besteht der Nutzen des digitalisierten Prozesses? Soll er die Menschen entlasten? Schneller, agiler oder kundenfreundlicher („Ihre Nachricht kam an und wir kümmern uns darum …“) machen?
  2. Weiterentwicklung statt Entfremdung: Werden Prozesse digitalisiert, die den Menschen bislang Spaß machten? Werden sie also von ihrer Arbeit entfremdet? Verstehen die Mitarbeiter*innen noch, was bei digitalen Prozessen im Hintergrund passiert, auch um es Kund*innen verständlich zu machen? Oder nimmt die Digitalisierung dem Menschen ungeliebte Tätigkeiten ab und hilft ihm sich weiterzuentwickeln?
  3. Freiräume für persönliche Entwicklungen: Schaffen digitale Prozesse Freiräume zur Entwicklung der Mitarbeiter*innen an einer anderen Stelle? Oder gilt es nur noch, im Hintergrund digitale Prozesse zu beobachten und bei Fehlern einzugreifen? Kurzum: Macht die Digitalisierung die Arbeit spannender oder langweiliger?
  4. Bindung: Fördert die Digitalisierung die Bindung zueinander, bspw. weil digitalisierte Routineaufgaben Freiräume schaffen, die für kreative Prozesse im Team genutzt werden? Oder schafft die Digitalisierung (Stichwort: Onlinemeetings) mehr Distanz zwischen den Mitarbeiter*innen? Es ist erstaunlich, wie viele Teams sich online verabreden, nur weil es einfacher ist, obwohl alle am gleichen Ort sind.
  5. Teilhabe, Integration und Inklusion: Fördert die Digitalisierung die Teilhabe möglichst vieler Mitarbeiter*innen an der Arbeit oder auch Diskussionen und Abstimmungen? Schaffen bspw. Onlinemeetings bessere Zugänge für Gehandicapte? Denken wir dabei auch an Apps für Sehbehinderte, die ihnen helfen, Einkaufswaren zu scannen oder die Möglichkeit von Übersetzungsprogrammen im interkulturellen Austausch. Und auch zur Partizipation möglichst vieler Mitarbeiter*innen an Unternehmensprozessen lassen sich digitale Hilfsmittel (Onlinemeetings, Abstimmungsplattformen) gut einsetzen. Die Frage ist nur: Ist das auch gewünscht?

Zusammenfassen lassen sich diese 5 Aspekte auch in die 3 Bereiche des Organisatorischen, Persönlichen und Sozialen:

Literatur

Sebastian Wörwag, Andrea Cloots (Hrsg.) – Human Digital Work – Eine Utopie? Springer—Gabler, 2020, S. 127ff