Ein Dilemma für die zukünftigen Lehrbücher

Die Regierung steht vor einem Dilemma, dass in seiner Paradoxie und Brutalität kaum zu überbieten ist. Stellen wir uns dazu die Zukunft mittels zweier Extrem-Szenarien vor:

  1. Das Virus ist tatsächlich so gefährlich, wie behauptet wird. Es wütet so schlimm wie in Italien, Spanien oder Frankreich. Dann hätte die Regierung alles richtig gemacht. Die restriktiven und teils infantilisierenden Ausgangsbeschränkungen hätten ihre Berechtigung gehabt. Die Bürger würden sagen: Gut habt ihr gehandelt. Streng und gut. Und recht hattet ihr, die Ungehorsamen und Unbelehrbaren hart zu bestrafen. Ihr habt unser aller Leben beschützt. Die Verschwörungstheoretiker hätten unrecht gehabt. Das Paradoxe daran lautet: So brutal es klingt, aber eigentlich wünschen wir uns insgeheim so ein Szenario. Wir wünschen uns volle Krankenhäuser. Wir wünschen uns ein volles BVB-Stadion. Wir wünschen uns Tote, um in unser aller Glauben bestätigt zu werden. In seiner ganzen Brutalität würde uns dies paradoxerweise erleichtern. Die ganzen Verzichte und Leiden waren nicht umsonst. Die Kindeswohlgefährdungen, der Suizid des hessischen Finanzministers, die bankrotten Unternehmen und Soloselbständigen, das Sterben der kleinen Einzelhändler. All das war nicht umsonst.
  2. Was jedoch passiert, wenn das Virus weniger wütet als gedacht? Medizinisch eine erleichternde Vorstellung, aber sozialwissenschaftlich betrachtet eine Horrorvision. Der Shutdown lässt sich mit einem konjunktivischen Narrativ erklären: Wenn wir nicht gehandelt hätten, wäre es noch viel schlimmer gekommen. Doch was ist mit den Bußgeldern? Und viel schlimmer noch: Was ist mit der Wahrheit, die sich dann nicht mehr beweisen lässt? Werden Verschwörungstheoretiker einen neuen Zulauf bekommen? Was passiert mit all jenen, die aktuell sagen: Wir sehen es anders? Wird es eine neue Welle an Protestwählern geben? Das „Was wäre passiert, wenn wir nicht …?“ lässt sich nicht beweisen. Für ein „Was wäre passiert, wenn wir nicht …?“ gibt es keinen Fakten-Check.

Wie also könnte ein Ausgang aus diesem Dilemma aussehen? Für mich als Befürworter von Schwarmintelligenz und einer agilen Vorgehensweise gibt es nur einen Weg: Kritiker so schnell wie möglich mit ins Boot holen, um die Versöhnung nicht auf die Zeit nach der Krise zu schieben, sondern bereits jetzt an für die gesamte Gesellschaft sinnvollen Lösungen zu arbeiten. Das würde jedoch bedeuten, in Expertenteams nicht nur Virologen, Mediziner und Epidemiologen einzuladen, sondern auch Juristen, Soziologen, Psychologen, Philosophen, Ethiker oder Kirchenvertreter. Wir stehen vor der größten Herausforderung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Können wir angesichts dieser Krise wirklich auf die Expertise vieler kluger Köpfe dieses Landes verzichten? Die Krise werden wir so oder so meistern. Auch mit einschneidenden Restriktionen. Doch wie wird die soziale Welt danach aussehen?