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Mit einer Persönlichkeits-Inventur zu nachhaltigen Veränderungen

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Dass wir uns gerade in einer sich schnell drehenden Welt anpassen und verändern sollten, liegt auf der Hand. Doch wie einfach ist es, sich zu weiterzuentwickeln?

In meinen Konfliktmanagement-Seminaren frage ich manchmal zu Beginn ab, in wessen Familie offen diskutiert und gestritten wurde und bei wem offene Konflikte tabu waren, meist mit Rücksicht auf ein erkranktes Elternteil. Die Erkenntnisse dieser Mini-Umfrage decken sich ziemlich genau mit der Frage, wer eher offen und unerschrocken und wer eher zurückhaltend in Konfliktgespräche geht. Aus solchen Erfahrungssituationen unseres Lebens entsteht dann nach und nach ein mutiges, neugieriges, (un)geduldiges, aufbrausendes, ausdauerndes, selbstreflexives, willensstarkes, aushaltendes, gütiges, strenges, vertrauendes oder skeptisches Selbst.

An dieses Unbewusste kommen wir heran, wenn wir eine Liste zusammen stellen aus Satzanfängen wie:

  • Ich bin ein Mensch, der …
  • Oder: Ich bin nicht ein Mensch, der …

Diese Satzanfänge lassen sich mit verschiedenen Rollen ausweiten, die wir im Leben einnehmen: Mann, Frau, Kolleg*in, Freund*in, Vater, Mutter, Führungskraft, usw.

Aber Vorsicht! Bei den Rollen vermischt sich die eigene Sicht mit Erwünschtheiten. Deshalb ist es wichtig, klar zwischen der eigenen Sichtweise und fremden Erwartungen zu trennen, um herauszufinden, worin das Eigene besteht.

Was bin ich also für ein Mensch? Was bin ich für eine Führungskraft? Und wie kann ich mich verändern? Dazu möchte ich Ihnen ein Programm aus drei Schritten anbieten:

Schritt 1: Inventur

Als erstes brauchen wir eine Inventur der oft unbewussten inneren Selbstaussagen:

  • Ich könnte ein Mensch sein, der lange Diskussionen nicht aushält.
  • Ich könnte jemand sein, die es meist sehr genau nimmt, auch bei der Vorbereitung eines Sommerfests.
  • Ich könnte ein Mensch sein, der sehr gut und geduldig zuhören kann (oder auch nicht).
  • Ich könnte jemand sein, der sich von der Enttäuschung eines Mitarbeiters leicht mitreißen lässt. Oder, der sich im Gegenteil gut abgrenzen kann.
  • Ich könnte sehr kritisch gegenüber Neuerungen sein. Oder stattdessen schnell zu begeistern sein.
  • Es könnte mir leicht oder schwer fallen, Entscheidungen gegen Widerstände durchzusetzen.

Schritt 2: Einordnung des Inventars

Als zweites ist es wichtig, unser Inventar zu sortieren. Folgende Kategorien sind dazu hilfreich:

  1. Damit bin ich zufrieden. Das kann so bleiben, weil ich damit Erfolg habe.
  2. Damit bin ich unzufrieden. Das will ich verändern, weil ich damit keinen Erfolg habe und mir mein Leben oder meine Arbeit erschwere.
  3. Damit bin ich selbstzufrieden. Denn insgeheim könnte es sein, dass ich nur zu bequem bin, um mich zu verändern.

Schritt 3: Weiterentwicklung

Wie jedoch lässt sich das eigene Selbst überarbeiten?

Zuerst einmal ist es wichtig, das eigene Selbst zu wertschätzen: Da ist eine Macherin, ein Empath, ein Mutiger oder eine Neugierige. All das ist erst einmal gut und hilfreich. Wir sind jedoch nicht nur ein mutiger Typ, sondern auch ein mutiger Typ. Es geht also um Differenzierung anstatt Ausschluss. Die Frage ist nur: In welchen Situationen ist welcher Selbst-Anteil von mir sinnvoll?

Zum zweiten stellt sich die etwas kompliziertere Frage, warum mir ein Teil meiner selbst wichtig erscheint. Warum halte ich Diskussionen nicht aus bzw. warum “muss” etwas in mir nach maximal zehn Minuten ein Machtwort sprechen?

Zur tieferen Beschäftigung mit den Hintergründen von meinem Selbst ist die Warum-Methode aus dem japanischen Lean-Management hilfreich. Im Ursprung lautete die Anleitung dazu: Frage fünf mal Warum, bevor du eine Entscheidung triffst. Analog dazu könnte die Anleitung hier lauten: Frage fünf mal Warum, um zu erkennen, wer du wirklich bist und was dir wichtig ist:

  1. Warum halte ich Diskussionen nicht aus? → Weil wir dann nicht mit der Arbeit voran kommen.
  2. Warum ist es mir wichtig, mit der Arbeit voran zu kommen? → Weil es in meiner Verantwortung als Chef liegt.
  3. Warum ist mir Verantwortungsübernahme wichtig? → Weil mir Kontrolle wichtig ist?
  4. Warum ist es mir wichtig, Kontrolle zu haben? → Weil es sich sicherer anfühlt. Ich weiß dann, was als nächstes zu tun ist.
  5. Warum ist es mir wichtig, zu wissen, was als nächstes zu tun ist? → Weil ich mich ungern auf Unwegbarkeiten einstelle.

Manchmal braucht es mehr als fünf Runden, manchmal weniger. Fakt ist jedoch: Wir stellen unser Selbst bzw. uns selbst infrage, werfen dadurch ein Licht auf Stellen, die wir ansonsten ungern beleuchten und sind durch diese Bewusstmachung in der Lage, an uns zu arbeiten und uns weiter zu entwickeln. Es geht nun nicht mehr darum, Diskussionen per se laufen zu lassen. Es kann durchaus sinnvoll sein, an der ein oder anderen Stelle ein Machtwort zu sprechen. Es geht vielmehr darum, für sich selbst zu klären, wie ich besser mit Unwegbarkeiten umgehen kann bzw. den daraus resultierenden Kontrollverlust besser aushalte. Bereits diese Selbst-Erkenntnis ist ein erster, essentieller Schritt in Richtung Veränderung.

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Zeitenwende im Stressmanagement

Warum wir ein systemischeres Stressmanagement brauchen

Derzeit bin ich in verschiedensten Seminaren mit dem Thema „Umgang mit Dauerbelastungen“ unterwegs. Dass dieses Thema seit Corona wichtig ist, hat vermutlich jede*r schon am eigenen Leib oder aus Erzählungen erfahren. Die Rückmeldungen in meinen Führungs-Seminaren sind entsprechend. In einem Seminar für Leitungskräfte aus Pflegeheimen berichtete eine Teilnehmerin davon, dass sie am Abend meist komplett neben sich steht. Tagsüber funktioniert sie. Aber am Abend hat sie Kopfschmerzen, ist dauergereizt und streitet sich regelmäßig mit ihrem Mann.

Ein Einzelfall? Sicherlich nicht. In einem Online-Vortrag für 23 Führungskräfte startete ich neulich eine Abfrage: Wie belastet sind Sie aktuell auf einer Skala von 1-10. Als Antworten kam ein Durchschnitt von 9 heraus. Eine Person lag bei 6. Die meisten jedoch zwischen 8 und 10. Ich fragte ebenso ab, ob die Teilnehmer*innen glauben, dass es bald wieder besser wird. Ein Teilnehmer meinte „Ja“. Der Rest ging davon aus, dass es eher schlimmer wird.

Vor 4 Jahren war die Belastung ebenfalls hoch. Doch erstens war sie nicht ganz so hoch. Und zweitens gab es ein Licht am Ende des Tunnels. Heute ist das Ende nicht absehbar.

Gründe für Dauerüberlastungen

Gründe dafür, warum Teams allerorten überlastet sind, gibt es viele. Manche davon werden sich von alleine lösen, andere werden bleiben. Krankheitswellen kommen und gehen. Der Arbeitsmarkt jedoch bleibt bestehen. Junge Menschen wollen weniger arbeiten. Warum sich aufarbeiten? Auch Krisen werden vermutlich zunehmen: Zoonosen, Überschwemmungen, Hitzewellen. Bei der „Neuen Normalität“ müssten hinter dem Wort „Neu“ drei dicken Ausrufezeichen stehen und hinter dem Wort „Normalität“ ein großes Fragezeichen.

Was also ist zu tun, damit die Menschen nicht reihenweise in Burnout-Kliniken landen?

Zuerst einmal gibt es im Stressmanagement ein großes Repertoire an Methoden, mit denen viel erreicht werden kann, wenn sie konsequent angewendet werden:

  1. Aus der Resilienzforschung wissen wir um die Vorteile einer klaren Zielsetzung, einer optimistischen Einstellung, dem Vertrauen in die Zukunft, klaren Verantwortungsverteilungen im Team und der Macht des Austauschs mit anderen. Doch was passiert, wenn wir keine längerfristigen Ziele mehr setzen können und sich der Optimismus über die letzten Jahre abnutzte? Aktuell habe ich das Gefühl, die meisten Menschen sind froh, wenn dieses Jahr einigermaßen ohne weitere große Zwischenfälle verläuft. Große Pläne haben da eher keinen Platz.
  2. Aus dem Selbst- und Zeitmanagement kennen wir Todo-Listen und Prioritätenpläne. Auch das kann helfen, um mit den gröbsten Belastungen umzugehen. Doch was passiert, wenn täglich Aufgaben anfällen, die auf keiner Liste stehen und Prioritäten immer wieder neu priorisiert werden müssen?
  3. In diesem Fall sollten wir unsere Einstellungen verändern, was im Wesentlichen mit Achtsamkeit zu tun hat: Die Arbeit muss erledigt werden. Aber wie gut oder schlecht gelaunt ich das mache und ob ich mir dazwischen Regenerationspausen gönne, ist mir selbst überlassen. Fakt ist: Selbst wenn ich heute alles erledigen würde (was utopisch erscheint), ginge es morgen von vorne los. Sisyphos lässt grüßen.
  4. Doch auch die Einstellungsveränderung stößt an Grenzen. Umso wichtiger ist es, sich aktiv um seine Lebensbalance zu kümmern, was letztlich bedeutet, von einem WorkLifeBlending wieder zu einer klaren WorkLifeBalance zu kommen, indem ich meine Arbeit klar von meinem Privatleben trenne. Bei manchen Führungskräften werden beispielsweise die Diensthandys ab 18 Uhr konsequent abgeschaltet.

Vom Ego zum System

All diese Ansätze sind jedoch weitgehend egobezogen. Der Mensch ist selbst dafür zuständig, seine Arbeitskraft zu erhalten. Allenfalls die Unterstützung anderer – wie im Resilienzansatz angedeutet – wirkt noch ergänzend zur eigenen Leistung. Die Systemfrage wird jedoch selten gestellt.

Dabei haben wir in den letzten Jahren durchaus erfahren, dass Systeme sich verändern können, wenn sie müssen. Homeoffice funktionierte nach einigen Startschwierigkeiten besser als gedacht. Woher kommt also die große Angst, auf der Systemebene nach Lösungen zu suchen? Und muss es immer ein großer Schock sein wie von Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schockstrategie“ beschrieben, bis sich etwas verändert?

Ein Beispiel: Eine Malermeisterin kann keine Aufträge mehr annehmen, weil sie kein Personal mehr hat. Die Lösung: Sie stellt auf eine 4-Tage-Woche um und gibt ihren Mitarbeiter*innen mehr Freiheit in ihrer Arbeitszeiteinteilung. Konkret: Ist ein Maler mit einem Auftrag bereits nach 4 Stunden fertig, fragt er seine Kolleg*innen, ob auf einer anderen Baustelle jemand gebraucht wird. Die Reduzierung der Arbeitswoche sorgt für mehr Ausgleich, die Flexibilisierung für eine bessere Auslastung aller. Beides führt zu mehr Zufriedenheit der Mitarbeiter*innen und in Folge zu mehr Bewerber*innen. Die Malermeisterin greift auf ein agiles System zurück, ohne das Wort Agilität in den Mund zu nehmen. Sie suchte einfach nach einem pragmatischen Ansatz (siehe externe Quelle: https://www.freitag.de/autoren/lena-marbacher/new-work-eine-handwerkerin-weiss-besser-als-linkedin-was-modernes-arbeiten-ist, leider hinter einer Bezahlschranke).

Was also braucht es, um Systeme zu ändern?

Wie wir an dem Beispiel gesehen haben nicht viel. Bereits die Umstellung von einer 5- auf eine 4-Tage-Woche hat eine enorme Auswirkung. Um eine solche Entscheidung zu treffen, braucht es jedoch nicht nur Mut, sondern auch das Vertrauen in die Flexibilität der sich selbst organisierenden Mitarbeiter*innen.

An dem Beispiel sehen wir allerdings auch, dass neue Arbeitsansätze durchaus Möglichkeiten bietet, Stress und Dauerbelastungen zu reduzieren. Wie wäre es beispielsweise mit der Überprüfung überkommener Regeln wie im Ansatz von „Kill a stupid rule“ (siehe externe Quelle: https://nativdigital.com/kill-a-stupid-rule), nicht um agiler und schneller zu werden, sondern um Belastungen besser zu meistern?

Literatur (externer Link): Michael Hübler – Du bist nicht schuld!

Das Verhältnis von Führung, Professionalität und Agilität, oder: Was Führung wirklich bedeutet?

Eine seltsame Frage, oder? Denn im Alltag macht man und frau sich darüber meist keine Gedanken. Führung bedeutet dann u.a. Mitarbeiter*innen Anleitungen zu geben, sie zu coachen, zu entwickeln und natürlich auch Veränderungen gut, respektvoll und wertschätzend zu begleiten, was mir als Mediator besonders am Herzen liegt.

Bleiben wir bei den Veränderungen. Der Philosoph Michael Andrick (“Erfolgsleere”) schreibt: Professionalität bedeutet, den Status Quo zu wahren, indem eine Tätigkeit effektiv und effizient nach einem bestimmten Muster wiederholt durchgeführt wird. Konkret: Hat ein Kunde einen bestimmten Wunsch, greife ich dazu als Mitarbeiter*in in eine analoge oder digitale Schublade, ziehe dort ein Formular heraus und bearbeite den “Fall” nach einem optimierten und als erfolgreich belegten Muster. Genau das bedeutet es, wenn wir sagen, jemand handelt professionell.

Streng genommen gilt diese Professionalität des Handelns jedoch nur solange, bis sich die Erde weiter dreht und aufgrund neuer Erkenntnisse (Kundenwünsche, Marktlage, Ressourcenknappheit, etc.) ein neues Handlungsmuster notwendig wird. Wer Agilität ernst meint muss also – ebenso streng genommen – sowohl professionell als auch unprofessionell handeln. Denn Professionalität schafft Sicherheit und Verlässlichkeit, während Unprofessionalität einen notwendigen Wandel begleitet.

Führung in diesem Sinne bedeutet also nicht (nur) den Status Quo der im Moment X bereits überholten Professionalität, sondern den Wandel zu organisieren und damit eine neue Professionalität vorzubereiten.

Damit machen sich Führungskräfte jedoch selten Freunde, weil die Mitarbeiter*innen aus der alten Professionalität sowohl Sicherheit gewinnen, als auch Status. Sich professionell zu verhalten ist in Unternehmen selbstredend mehr anerkannt als gegen offizelle Regeln zu verstoßen, indem jemand den Prozess Y einmal beiseite legt und auf seine Intuition horcht. Kein Wunder, dass agile Projektteams im restlichen, “professionellen” Unternehmen missträuisch beäugt werden.

Zudem weiß niemand, ob eine neue Professionalität wirklich erwünschte Verbesserungen mit sich bringt, da sie in der Zukunft liegt. Führungskräfte, die einen Wandel begleiten und voran bringen, sollten also ein dickes Fell mitbringen, um für ihre Sache zu werben. Dazu können sie sich jedoch logischerweise nicht auf den vorherrschenden professionellen Status Quo berufen, sondern brauchen einen eigenen inneren Kompass, der sich bestenfalls aus einer intensiven Auseinandersetzung mit Werten wie Fairness, Respekt oder Menschlichkeit ergibt. Wirkungsvolle Führungskräfte sollten daher gut wissen, wofür sich der Aufwand lohnt, sich mit dem Status Quo anzulegen und eventuell auf eine höhere Karriere zu verzichten.

Nebenbei muss die Beschäftigung mit solchen Werten – beispielweise im Rahmen einer Mediation – einem Unternehmen immer auch ein wenig suspekt sein, weil damit der fühlende Mensch sichtbar wird und nicht mehr der professionelle Mitarbeiter, der am Status Quo festhält.

Eine wirklich wirksame, im Sinne einer veränderungsgestaltenden Führung eckt also immer auch ein wenig an. Weil dies so ist machen leider wenig wirksame Führungskräfte Karriere. Wer funktioniert und nach den Regeln spielt, bietet nicht nur keine Angriffsfläche, sondern wird auch noch für seine Professionalität gelobt. Er schafft es aber nicht, dringliche Veränderungen im Unternehmen gut zu begleiten und zu gestalten. Dies soll keine Rede für jegliches Revoluzzertum in der Führung sein, jedoch darauf aufmerksam machen, dass ein bloßes Erfüllen der Regeln und Muster auf breiter Front langfristig zum Stillstand im Unternehmen führt.

Wer seine Mitarbeiter*innen – sowie das gesamte Unternehmen – als Führungskraft in Veränderungen mitnehmen möchte, kann sich das Bild der Erde vergegenwärtigen. Wer in die Ferne blickt und nichts von der Erdkrümmung weiß, könnte glauben, die Erde wäre flach. Wer nun auf einer langen Allee 100 Meter weiter geht, kann sowohl nach vorne als auch nach hinten sehen. Mit dem Blick nach hinten sehe ich denjenigen, der zuvor dachte, die Erde wäre eine Scheibe. Der Blick nach vorne jedoch lässt erkennen, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern die Allee weitergeht. Veränderungen agil zu begleiten bedeutet auch auf Sicht zu fahren. Wir sehen 100 Meter in die Zukunft, doch nach diesen 100 Metern haben wir eine neue Sichtweise auf die Welt, können und sollten über neue Lösungen nachdenken.

Über begrenzte Wahrheiten, Agilität und die Politik in Zeiten der Krise

Auf den wenig sozialen Foren (wo auch sonst) wird derzeit viel über Wahrheiten und Fake News spekuliert. Man hat das Gefühl, wir sind alle kleine Virologen, Mediziner oder Sozialwissenschaftler. Dort draußen scheint es eine Menge kleiner Besserwisser zu geben. Und ehrlich gesagt gehören wir hier alle dazu, zumindest diejenigen, die mitdiskutieren. Vermutlich auch Sie. Und ich sowieso. Sonst würde ich das hier nicht schreiben.

Wahrheiten jedoch funktionieren nur im Labor. Wenn ein Virologe wie Drosten sagt, er will sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen, weil er sich als Wissenschaftler missbraucht fühlt, hat er vollkommen recht. Die Wissenschaft ist der Wahrheit verpflichtet. Ob etwas wahr oder falsch ist, lässt sich jedoch nur in einem abgeschlossenen Setting überprüfen. Schütten wir zwei Flüssigkeiten in ein Reagenzglas, macht es Bumm! oder auch nicht. Gingen wir zuvor davon aus, dass es Bumm! machen sollte und es passiert nichts, lagen wir falsch. Fliegt uns das Teil um die Ohren, können wir vor Freude nackt die Wände hoch krabbeln. Macht es nur Puff! lagen wir wenigstens nur ein wenig daneben.

Wissenschaft kann Fakten liefern, die uns helfen, eine klar zu begrenzende Sachlage zu beurteilen. Doch was ist mit unserer Welt dort draußen?

Durch die Abschottung der Nationalstaaten, Quarantänen und Kontaktsperren soll ein solches berechenbares Setting hergestellt werden. Die strengen Ahndungen der Polizei im Erziehungsmodus sind ebenso Versuche der Kontrolle. Eine Wohnung ist jedoch kein Reagenzglas und der Mensch keine chemische Flüssigkeit, sondern ein komplexes Wesen. Kontaktungen sind komplexe Gebilde. Wollen wir ein wirklich berechenbares Setting, müssen wir alle Menschen auf der Welt einsperren. Und das für eine lange Zeit. Das will vermutlich niemand. Ich kenne zumindest niemanden. Aber wer weiß? Alles andere ist schwer berechenbar. Freilich ginge es auch mit einem Tracking der Handydaten im Sinne der Sicherheit zur Freiheit. Auch diese Diskussion wird in nächster Zeit noch häufiger zu hören sein.

Deshalb sollten Wissenschaftler keine Entscheidungen treffen. Jede Wissenschaft, sei es die Medizin, Philosophie, Ethik, Technik oder Soziologie, kann für ihren Bereich Wahrheiten erforschen. Es ist absolut sinnvoll, mit diesen begrenzten Wahrheiten Politiker zu beraten. Die Welt dort draußen ist jedoch kein Reagenzglas. Sie bewegt sich. Es finden Kontakte statt, die nur bedingt kontrolliert werden können. Die Welt dort draußen ist nunmal komplex. Und komplexe Situationen können nur abgeschätzt werden. Bei Schätzungen gilt der Schwarmintelligenzansatz: Je mehr Perspektiven in eine Entscheidung einfließen, desto treffender wird die Zukunftsvorhersage.

Dazu ein simples Beispiel: Wenn Ingenieure auf einem Herd die Bedienungselemente direkt in das Ceranfeld integrieren, mag dies auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen. Wäre in der Produktion eine Großfamilie zugegen, die liebend gerne Pfannkuchen bäckt, würde diese vermutlich den Kopf schütteln. Außer diese Familie hätte eine leichte Neigung zu Masochismus. Nun mag es sein, dass es dort draußen kaum noch Großfamilien gibt. Dennoch erweitert die Perspektive dieser Familie den Horizont der Techniker. Wenn sie nun noch die Sichtweisen eines Alleinerziehenden, eines Singles und einer normalen 1,3-Kind-Familie hinzunehmen wird das Bild komplett und die Techniker können eine abschließende Entscheidung treffen.

Ersetzen wir die Techniker durch Politiker und Familien durch Wissenschaftler, lässt sich der Vergleich leicht auf unsere aktuelle Situation übertragen. Die Politik muss Entscheidungen treffen. Auf einzelne Wahrheiten kann sie sich dabei nicht berufen. Sie sollte stattdessen ihre Urteile auf die Basis vieler Wahrheiten stellen.

Vielleicht liegt der Impuls mancher Menschen, gegen die aktuellen Regeln zu verstoßen oder Verschwörungstheorien anzuhängen, daran, dass etwas fehlt. Würde die Diskussion breiter, liefe es vermutlich wie in jedem Konflikt ab: Es wird weicher und verständnisvoller.

Gleichzeitig befinden sich Politiker durch mehrere Sichtweisen und Wahrheiten in einem Multilemma. Egal, was sie tun, Sie werden sich die Hände schmutzig machen. Die Welt der Wissenschaft ist einfach. Sie unterscheidet lediglich zwischen wahr und falsch. Die Welt der Politik ist hochkomplex. Jede politische Entscheidung bedient die Interessen des einen und führt zu einem Leiden an anderer Stelle. Leiden kann also nicht vermieden werden. Stattdessen geht es darum, das Leiden möglichst gering zu halten. Was dies im einzelnen bedeutet kann kein Wissenschaftler entscheiden.

In der Politik geht es nicht um die eine Wahrheit, sondern um Mut. Dieses Multilemma kann nur aufgelöst werden, wenn Politiker entschlossen handeln und, weil komplexe Welten sich stetig wandeln, jeden Tag neu bewerten und Entscheidungsanpassungen vornehmen. In diesem Sinne könnten Politiker von agilen Managern viel lernen, die wissen wie auf Sicht gefahren wird.

Wann ist Agilität sinnvoll und wann nicht?

Der Hype um agile Vorgehensweisen dringt in alle Bereiche vor. Dabei wehren sich manche Mitarbeiter vehement gegen die Veränderungen, die stetige Anpassungsprozesse mit sich bringen. Dass sie mit dieser Weigerung ab und an durchaus recht haben, zeigt die folgende Auseinandersetzung damit, wann Agilität sinnvoll ist und wann nicht:

  1. Manche Tätigkeiten und Abläufe sind für stetige Anpassungsprozesse schlichtweg nicht geschaffen. Adaptionsprozesse würden nur zu einem Chaos führen.

  2. Es gibt Tätigkeiten und Abläufe, bei denen es cleverer ist, Experten zu fragen anstatt Kunden. Der Kunde hat zwar Bedürfnisse und oft auch clevere Ideen, ist oftmals aber auch momentgetrieben, zum Beispiel übertrieben preisorientiert, ohne an langfristige Effekte seines Kaufverhaltens zu denken.

  3. Am prädestiniertesten für Schwarmintelligenz und Agilität sind komplexe, undurchsichtige Situationen, die zuerst einmal geklärt werden müssen.

  4. Chaotische Situationen hingegen können durch eine agile Führung zu Panik führen. In diesen Situationen braucht es eine klare Führung und Lenkung, um die Kontrolle über die Situation zurück zu gewinnen.

Da Bilder mehr als 1000 Worte sagen: Ein Schiff macht sich auf die Reise.

  1. Das Schiff wird gepackt. Dazu gibt es klare Listen, Vorgaben und logische Abläufe.

  2. Für die Reise braucht es Experten im Team, die navigieren, steuern, kochen können, usw. Auf die Essenswünsche der Crew einzugehen, ist sinnvoll. Eine Kartoffelsuppe kann jedoch nur gekocht werden, wenn genügend Kartoffeln da sind.

  3. Strandet das Schiff auf einer Insel, in der es nicht mehr darum geht, zu navigieren oder zu kochen, in der also die Experten überfragt sind, ist es sinnvoll, alle Crewmitglieder vom Offizier bis zum Ruderer, nach ihrer Meinung zu Erkundung der Insel zu befragen.

  4. Gerät das Schiff in einen Sturm, muss der Kapitän, evtl. in Absprache mit dem Steuermann, klare Ansagen machen, bis sich der Sturm wieder legt.