Jeder Mensch besitzt unterschiedliche Krisenerfahrungen. Was für die einen ein Sturmwind ist, ist für andere ein laues Lüftchen. Das hat oftmals weniger mit den persönlichen Kompetenzen zu tun, sondern vielmehr mit unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen sich die erwähnten Kompetenzen entwickelten.
Das bedeutet nun nicht, jegliche Verantwortung für den Umgang mit Belastungen von sich zu weisen. Auch von solchen Menschen gibt es mehr als genug in Unternehmen, wenn es wieder mal heisst: „Die da oben sind schuld an allem. Ich werde schließlich nicht gefragt.“
Wir können uns stattdessen engagieren, etwas investieren, andere unterstützen oder uns weiterbilden, um unsere Resilienz und Krisenstabilität zu erhöhen.
Ich glaube jedoch daran, dass wir erst wirklich offen miteinander umgehen, aus Fehlern lernen, neue kreative Ideen zum Umgang mit Belastungen haben und Verantwortung für uns Tun übernehmen werden, wenn wir Abstand nehmen vom Gefühl der eigenen Schuldhaftigkeit.
Schuldgefühle machen depressiv, aber sicherlich nicht kreativ im Umgang mit Belastungen. Und Schuldgefühle verhindern einen offenen Austausch mit anderen, weil jeder Mensch denkt, er wäre selbst verantwortlich für seine Misere, weil er nichts unternommen hat oder zu spät handelte. Aufgrund der Unklarheiten zum Werdegang einer Krise kann aus einem Schuldgefühl sogar Scham werden. Dann heisst es nicht: Ich habe zu wenig getan, sondern: Ich bin nicht gut genug. Ich bin unfähig, mit Krisen und Belastungen umzugehen. All dies sind jedoch keine guten Voraussetzungen, sich darüber auszutauschen wie am besten gemeinsam mit Krisen und Belastungen umgegangen werden sollte.
Mein Ebook mit dem Titel „Du bist nicht schuld“ soll daher kein einfacher Mutmacher sein. Es gibt durchaus einiges zu tun, um die 50 Tipps zum Umgang mit Krisen und Dauerbelastungen umzusetzen. Dann jedoch halten Sie ein reichhaltiges Instrumentarium in der Hand, um auch den nächsten Sturm mit einem Lächeln auf den Lippen souverän gemeinsam zu meistern.
Im Kern geht es darum, Stressmanagement systemischer zu betrachten, da vieles in diesem Bereich egozentriert ist. Achtsamkeitsübungen mache ich alleine. Für ein gutes Zeitmanagement sorge ich ebenfalls alleine. Und wenn ich zu gut bin, schneide ich mir damit am Ende ins eigene Fleisch, weil es es dann heisst: „Was? Du bist schon fertig? Kannst du dann vielleicht …?“ Und meine Work-Life-Balance muss ich auch selbst verteidigen.
Wie wir jedoch gemeinsam in Teams besser mit Dauerbelastungen umgehen können, zeigt Ihnen mein siebenstufiges systemisches Stressmanagement-Modell.
Wird ein Mensch mit Stress konfrontiert, sind die Reaktionen darauf sehr unterschiedlich:
Manche suchen den Fehler bei sich und beginnen ihr Zeitmanagement zu optimieren.
Manche leiden still vor sich hin.
Manche suchen Verbündete.
Manche beschweren sich lautstark im Team über die unsäglichen Zustände im Haus.
Damit wirkt sich Stress in der Arbeit nicht nur auf jede*n Einzelne*n aus, sondern bekommt auch eine systemische Komponente und bestärkt schlimmstenfalls latent vorhandene Konflikte:
„Ist doch alles nicht so schlimm. Der stellt sich wieder an.“
„Jetzt ist die schon wieder krank.“
„Die da oben könnten sicherlich, aber wollen uns natürlich nicht helfen.“
Die Konfliktlinien verlaufen also zwischen „Oben“ und „Unten“, als auch mitten durch Abteilungen und Teams hindurch.
Vor diesem Hintergrund entstanden die folgenden 7 Stufen eines konstruktiven Umgangs mit Stress, zum einen zur persönlichen Einordnung:
Was bin ich für ein Typ?
Wo stehe ich gerade?
… und zum zweiten zur Ableitung konkreter Maßnahmen:
Was habe ich bereits unternommen, um besser mit Belastungen umzugehen?
Welche Optionen gibt es noch?
Auf der persönlichen Ebene (Stufen 1-4) zeigt sich, was Mitarbeiter*innen selbst tun können, um mit Stress umzugehen, bevor sie auf den Stufen 5-6 miteinander in Austausch gehen – sowohl im Team, als auch über Hierarchiegrenzen hinweg. Die Stufe 7 wiederum beinhaltet die persönliche letzte Konsequenz, wenn die vorhergehenden Stufen zu keinem Erfolg führten.
Diese 7 Stufen zeigen, dass ein konstruktives Stressmanagement mehr ist als ein optimales Zeitmanagement oder ein Schimpfen auf die Umstände.
1 Aushalten
Der Normalzustand des Menschen ist das Aushalten von Belastungen. Die wenigsten verändern gerne etwas an ihrem aktuellen Zustand – weder bei sich selbst, noch bei anderen. Unter normalen Bedingungen ist das vollkommen in Ordnung. Wichtig hierbei ist jedoch, seine eigenen Grenzen zu kennen. Stellen Sie sich beispielsweise ein Zehn-Liter-Fass vor. Zu Beginn merken Sie nicht, dass das Fass immer voller wird. Doch irgendwann sind Sie bei 8 oder sogar 9 Litern angekommen. Jetzt braucht es nur noch den berühmten letzten Tropfen. Besser Sie denken schon einmal über die nächste Stufe nach.
2 Sich selbst optimieren
Der erste Impuls bei hohen Belastungen geht bei vielen Menschen in Richtung Selbstoptimierung und damit ist das persönliche Zeitmanagement gefragt: Checklisten, To-do-Listen, Projektpläne, Timeboxing, Prioritäten setzen, usw. Interessant am Zeitmanagement im Rahmen eines konstruktiven Stressmanagements ist jedoch nicht nur die Selbstoptimierung, sondern auch oder vor allem die Nachricht an andere: „Schau her was ich bereits unternehme, um besser mit Stress umzugehen.“ Dies sollten wir im Kopf behalten, wenn es später darum geht, sich Freiräume zu schaffen im Sinne von: „Ich habe an meinem Zeitmanagement gearbeitet, aber es funktioniert dennoch nicht. Ich brauche also etwas anderes.“ Dann läuft das Fass zum zweiten mal über.
3 Einstellung verändern
Nachdem auf der 2. Stufe auf der Verhaltensebene gearbeitet wurde, geht es nun um innere Einstellungen, was v.a. mit innerer Achtsamkeit zu tun hat: Ich kann die Belastungen nicht abstellen, meine Selbstoptimierung stößt an ihre Grenzen, ich kann jedoch versuchen, die anstehende Arbeit leichter zu nehmen. Daher geht es hier auch um einen sinnvolleren Umgang mit inneren Antreibern wie Perfektionismus oder Schnelligkeit und der inneren Erlaubnis die Welt nicht im Alleingang retten zu müssen. Doch auch diese (neue) innere Gelassenheit im Umgang mit Stress kann an ihre Grenzen stoßen und das Fass ein drittes mal zum Überlaufen bringen, wenn das System, in dem wir uns befinden permanent zu hohe Ansprüche an uns stellt. Schließlich leben wir nicht auf einer einsamen Insel.
4 Lebensbalance wiederfinden
Seine Lebensbalancen wiederzufinden lässt sich als letzte Stufe persönlicher Coping-Strategien betrachten. Während ich auf der 2. und 3. Stufe lediglich an mir selbst arbeite, wird hier bereits das Umfeld stärker mit einbezogen. Bei dem Begriff Lebensbalance denken die meisten zuerst an eine bessere Work-Life-Balance und damit eine bessere Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Dabei ist interessant, dass die Arbeit meist strukturierter abläuft als unsere Freizeit. Ich „spiele“ eine Rolle, es gibt Projektpläne, Dienstanweisungen, usw. Dies schafft einerseits Klarheit und Sicherheit. Andererseits kann es uns einengen. Die Freizeit wiederum ist erst einmal ein leerer Raum, den die Menschen selbständig füllen müssen, damit ihnen nicht langweilig wird. Damit ergibt sich die Chance, intensiver auf die eigenen, natürlichen Rhythmen nach Bedürfnissen wie Pausen, Schlaf, sozialer Nähe oder sozialem Abstand zu achten. Rhythmen wiederum suggerieren Balancen zwischen Aktivität und Pause, Struktur und Abweichungen, Schnell und Langsam oder Bewährtem und Neuem. Um seine Balance im Leben wieder zu finden gibt es daher viele verschiedene Ansätze. Sollte auch diese Stufe an ihre Grenzen kommen, bspw. weil das Umfeld kein Verständnis für die persönlichen Bedürfnisse hat, braucht es einen Austausch mit anderen.
5 Austauschen
Der Austausch mit anderen kann natürlich auf allen Stufen gepflegt werden. Ich ordne den „großen“ Austausch im Team jedoch erst auf dieser Stufe an, weil die vorangehenden Stufen bezeugen, was Sie bereits gemacht haben: Sie haben sich optimiert, Ihre Einstellungen angepasst und sich um Ihre Bedürfnisse gekümmert. Damit konnten Sie viele Erfahrungen sammeln, um einen Austausch mit anderen produktiv zu gestalten, anstatt sich in einer uneffektiven Motz- und Jammerrunde zu verlieren. Auf dieser Basis sollte es um die Logik und Sinnhaftigkeit der Belastungen und einen guten Umgang mit Stress gehen. Dies hat dank der vorangegangenen Stufen entweder eine unterstützende, vorbildhafte oder unter Leidensgenoss*innen eine verbindende Wirkung. Doch auch diese Stufe kann an ihre Grenzen stoßen, wenn temporäre Belastungen zu Dauerbelastungen werden.
Manchmal reicht es aus, Belastungen im Team zu akzeptieren und sich über einen guten Umgang damit auszutauschen. Manchmal reicht es nicht aus. Dann braucht es eine Veränderung. Wenn es in meinen Seminaren um Dauerbelastungen geht, wollen viele Menschen sofort auf die 6. Stufe springen. Der Wunsch nach Arbeitserleichterungen oder neuen Einstellungen ist verständlich. Damit vorschnell zur Geschäftsleitung zu gehen ist allerdings aus zwei Gründen nicht ratsam:
Selbstermächtigung: Kritik zu üben erscheint leicht, macht aber auch ohnmächtig. Für das eigene Selbstwertgefühl ist es sinnvoller, erst einmal zu erforschen, was auf den vorhergehenden Stufen alles möglich ist.
Verhandlungsargumente: Werden die vorhergehenden Stufen durchlaufen, haben Mitarbeiter*innen ein viel stärkeres Pfund in der Hand, mit dem sie wuchern können.
Nun stellt sich die Frage, ob eine Situation tatsächlich verändert werden kann oder nicht. Sollte sie sich verändern, indem bspw. eine neue Kraft eingestellt und eingearbeitet wird, oder eine Führungskraft deutlich macht, dass Perfektionismus aktuell unerwünscht ist, könnte sich das Blatt wenden. Wenn nicht, braucht es auch hier wieder eine klare Deadline, bis das Wasser ein letztes mal überläuft. Eine solche Deadline kann zeitlicher oder inhaltlicher Natur sein:
„Ich mache das noch ein halbes Jahr mit.“
„Diesen Aufgabenbereich übernehme ich noch, aber dann ist Schluss.“
Persönliche Grenzziehungen sind wichtig, um einem Anpassungseffekt zu entgehen.
7 Situation verlassen
Wenn klar ist, dass sich langfristig nichts verändern wird, taucht die Frage nach Alternativen auf. Dies muss nicht automatisch zu einer Kündigung oder dauerhaften Krankmeldungen führen, sondern kann auch eine temporäre Auszeit bedeutet, bspw. ein Sabbatical. Wurden jedoch die Möglichkeiten der vorangegangenen Stufen gut ausgeschöpft, wird es nachträglich auch kein schlechtes Gewissen geben, wenn tatsächlich die Reißleine gezogen wird.
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