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Trotz dem weiter machen

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In Krisen und unter Dauerbelastungen, bspw. bei einer dauerhaften Unterbesetzung, gelten andere Regeln:

  • Es wird mehr improvisiert als geplant.
  • Wir sollten uns auf das konzentrieren, was machbar ist.
  • Der erhöhte Aufgaben- und Zeitdruck erfordert eine Abkehr von einem übergroßen Perfektionismus. Es braucht daher eine manchmal schmerzhafte Prioritätensetzung.
  • Und auch große Visionen haben es schwer, wenn die Zukunft unsicher ist. Stattdessen wird auf Sicht gefahren, um die schlimmsten Verluste zu vermeiden.

Gerade in Krisenzeiten brauchen wir daher mehr Austausch als sonst (siehe auch https://www.m-huebler.de/warum-ziele-keine-zuversicht-und-motivation-mehr-vermitteln-und-was-wir-in-krisen-stattdessen-brauchen).

Doch reicht das aus? Oder brauchen wir als Mensch nicht auch Ziele, um nicht depressiv zu werden? Brauchen wir nicht trotzdem, bzw. trotz dem ganzen Drama um uns herum und der damit verbundenen Ungewissheiten Visionen und Ziele von einer besseren Welt, oder im Kleinen von einem vollständig besetzten Team? Brauchen wir nicht trotzdem das Vertrauen darauf, dass es eines Tages wieder besser wird?

Die Erfahrung, dass Ziele uns helfen, um stabil zu bleiben, kennt vermutlich jede*r. Man freut sich, die Masterarbeit endlich abgegeben zu haben … und fällt kurz darauf in ein tiefes, schwarzes Loch. Das Projektteam hat so gut zusammengearbeitet und dann, kurz nach Projektende, geht das Gezänke los. Wohl dem, der seinem Team ein weiteres Projekt präsentieren kann.

Das reine Weitermachen scheint eine ganze Zeit lang gut zu gehen. Letztlich sind aber Visionen und Ziele für unsere Psyche wie Nahrung für unseren Körper.

Die gesellschaftliche Stimmung spricht aktuell eine andere Sprache:

  • Viele junge Menschen wollen keine Kinder mehr in die Welt setzen. Goodbye Projekt Familiengründung.
  • Ein Haus zu bauen kann sich kaum noch jemand leisten.
  • Große Projekte stehen ohnehin im Verdacht, zu viele Umweltressourcen zu verschwenden.
  • Die nächste Urlaubsreise sollte auch bitteschön im Rahmen bleiben, um ressourcenschonend auszufallen. Andernfalls droht Reisescham.
  • Auch Karriere zu machen bzw. eine Führungsposition anzustreben erscheint vielen jungen Menschen nicht mehr attraktiv zu sein.

Ich hatte an anderer Stelle (https://www.m-huebler.de/wie-umgehen-mit-dem-motivationsknick-junger-mitarbeiterinnen) bereits über die 4 Phasen der Motivation geschrieben:

  1. Energie haben
  2. Sich ein Ziel setzen
  3. Durchhalten
  4. Das eigene Ziel gegen Widerstände verteidigen

Dabei stellt sich die Frage, woran es liegt, dass wir nicht mehr groß denken:

  • Haben wir nach der Pandemie, einem Krieg nach dem anderen, Diskussionen über das Klima, usw. keine Energie mehr für große Ideen?
  • Gibt es tatsächlich einen moralischen Vorbehalt gegen große Visionen, zumindest wenn sie nicht umweltschonend und nachhaltig sind?
  • Fehlt uns die Geduld und Beharrlichkeit unsere Ziele auch langfristig zu verfolgen?
  • Haben wir verlernt, für unsere Ideen, die zu Beginn oft noch klein und zerbrechlich sind, einzustehen?

Der Trotz hat einen schlechten Ruf. Er gilt als kindlich und naiv. Es lohnt sich nicht, sich trotzig für etwas einzusetzen, das ich ohnehin nicht haben kann. Wer klug und erwachsen ist, tut so etwas nicht. Aber vielleicht brauchen wir genau diesen kindlichen Trotz, verbunden mit der kindlichen Energie, an positive Visionen zu glauben, gerade weil derzeit vieles dagegen spricht:

  • An Frieden glauben, auch wenn wir wissen, dass es immer wieder Krieg geben wird.
  • An der Einigkeit im eigenen Team arbeiten, auch wenn es immer wieder Streit gibt.
  • Projekte verfolgen, die zumindest eine kleine Chance haben, verwirklicht zu werden. Und wenn sie scheitern, können wir zumindest etwas daraus lernen.

Vielleicht hatte Albert Camus recht, als er schrieb: Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Er weiß, dass der Stein niemals oben bleibt. Die Entropie, d.h. der Zerfall, ist immer stärker als der Aufbau. Vertrauen ist immer schneller verspielt als wieder hergestellt. Ich muss also wie die Rote Königin bei Alice im Wunderland rennen, um zumindest auf der Stelle zu bleiben.

Das ist anstrengend, kein Frage. Wäre es nicht angenehmer, seine Energie zu schonen, wenn wir schon wissen, dass wir unsere Ziele ohnehin selten so erreichen wie wir sie geplant hatten? Wäre es nicht weniger frustierend, uns mit Netflix, Amazon Prime und Disney+ „zu Tode zu amüsieren“ (Neil Postman)?

In der Psychologie gibt es den Begriff der „Psychischen Homöodynamik“: Wenn wir scheitern, verarbeiten wir diese Erkenntnis. Versuchen wir es gar nicht erst, wissen wir nicht, ob es funktioniert hätte oder nicht. Deshalb machen langfristig selbst gescheiterte Projekte glücklicher als Projekte, die wir zwar als Ideen hatten, aber nie in Angriff nahmen.

Auch wenn ich keine Studien dazu kenne, liegt es aufgrund des Zusammenhang zwischen unserer Psyche, unseres Gehirns und Immunsystems nahe, dass verfolgte Ziele nicht nur glücklich machen, sondern uns auch gesund halten. Denken wir uns also Sisyphos nicht nur als glücklich, sondern auch als gesunden Menschen.

Literatur:

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode

Christian Schubert: Was uns krank macht – was uns heilt. Aufbruch in eine neue Medizin.

Christian Schubert: Das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren: Gesundheit und Krankheit neu denken.

Lutz Bannasch und Beate Junginger: Gesunde Psyche, gesundes Immunsystem: Wie Psychoneuroimmunologie gegen Stress hilft.

Modernes Arbeiten versus Gesundheit

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Modernes Arbeiten ist zwar kreativ, kann aber auch krank machen

Vertrauensarbeitszeit, insbesondere in der mobilen Version, bietet Mitarbeiter*innen die Möglichkeit, rund um all ihre Lebensaufgaben dann zu arbeiten, wann es am besten passt. Die Zeiten der Stechuhr sind also eigentlich vorbei, oder?

Gemäß dem „Stechuhr“-Urteil des EuGH, das soeben aus dem Arbeitsministerium bestätigt wurde, sind Arbeitgeber jedoch verpflichtet, die Arbeitszeit der Mitarbeiter*innen lückenlos zu erfassen. Tatsächlich machten 12% aller deutschen Arbeitnehmer*innen 2021 Überstunden, wovon 22% nicht dafür bezahlt wurden (vgl. „der Freitag“ Nr. 17, 27.04.2023, Seite 1).

Vertrauensarbeitszeit – im agilen Management auch gerne Ziel- und Erfolgs- statt Zeitorientierung genannt – hat also auch seine Schattenseiten, insbesondere wenn wir daran denken, dass die Arbeit nie ausgeht und Projekte oftmals nahtlos ineinander übergehen.

Das Thema der Abgrenzung ist in der Tat eines der wichtigsten Themen in meinen Work Life Balance- und Achtsamkeits-Trainings. Weil die Arbeit niemals ausgeht und viele Mitarbeiter*innen Verrtauensarbeitszeit haben, nehmen sie oftmals ihre Arbeit mit nach Hause oder bleiben gleich länger, insbesondere wenn sie keine Kinder haben. Damit wird der vermeintliche Vorteil der Vertrauensarbeitszeit zu einem Nachteil der Mitarbeiter*innen. Diese müssen nun selbst lernen, wie sie sich mit beziehungsgerechtem Nein-Sagen abgrenzen, um sich nicht aufzuarbeiten.

Vertrauensarbeitszeit und Zeiterfassung in Balance

Kann das antiquierte Instrument der Stechuhr hier eine Lösung bringen, indem es Arbeitszeiten wie früher limitiert? Und wie lässt sich das mit Homeoffice und der Freiheit der Vertrauensarbeitszeit vereinbaren?

Rein theoretisch ist es durchaus denkbar, dass ein Mitarbeiter im Homeoffice morgens von 8-9 Uhr einige dringende Mails erledigt, anschließend sein Kind in die Kita bringt, von 10-12.30 Uhr Kund*innen besucht, Pause bis 13.30 Uhr macht, dann von 13.30-15.00 Uhr im Homeoffice arbeitet, 15.30 Uhr sein Kind von der Kita abholt, mit ihm spielt und wartet, bis die Mama von der Arbeit kommt und seine restlichen Stunden am Nachmittag bzw. frühen Abend ableistet.

Im ersten Moment klingt das kompliziert. Der Alltag vieler Eltern ist jedoch genau das: Kompliziert. Und weil es in diesem Normal-Alltag immer wieder Abweichungen gibt, braucht es keine Stechuhr aus dem vorigen Jahrhundert, sondern eine Mischung aus beiden Welten.

Wenn ich heute – weil mein Kind mehr Zuwendung braucht, eine Stunde weniger arbeite, arbeite ich morgen eben eine Stunde länger. Warum also nicht mit einer App arbeiten, die Arbeitnehmer und -geber am Wochen- oder Monatsende die Zeitbilanz anzeigen, damit alle Parteien wissen, woran sie sind oder wo evtl. noch Verbesserungsbedarf besteht?

Über die Illusion einer perfekten Welt

Wir gehen i.d.R. davon aus, dass etwas Ganzes das Normale ist, beispielsweise Gesundheit oder Glück. Was wäre jedoch, wenn nicht die Ganzheit, sondern – passend zu meinem letzten Artikel über die Philosophie des Kintsugi – die Abweichung das eigentlich Normale im Leben ist? Es gibt vermutlich keinen Menschen auf der Welt, der noch niemals krank war. Und jeder Mensch hat irgendeinen psychischen oder physischen Makel. Abweichungen sind normaler als wir denken. Aus diesem Grund sind Perfektionismus und Vollkommenheit eine Illusion. Die meisten von uns ekeln sich vor Exkrementen, obwohl wir alle Ausscheidungen von uns geben. Anders formuliert: Auch hübsche Frauen haben Blähungen. Gesundheit, Gerechtigkeit oder Frieden sind Illusionen, die uns eine Vollkommenheit vorgaukeln, die es anzustreben gilt, auch wenn Krankheit, Ungerechtigkeit und Krieg der Normalfall sind. Die wahre Ganzheit besteht folglich in der Anwesenheit von Abweichungen. Unsere Illusionen jedoch täuschen uns vor, dass es eine heile Welt geben könnte. Deshalb passen Krieg und Folter nicht in unser Weltbild. Sie würden unsere Vorstellung von einer funktionierenden Welt zerstören. Wenn jedoch Ungerechtigkeiten Teil aller gesellschaftlichen Systeme sind, lassen sie sich – wie uns vorgespielt wird – nicht partiell abschaffen. Stattdessen müssen Ungerechtigkeiten bestehen bleiben, um das System als Ganzes zu erhalten. Wenn wir also die Ungerechtigkeit für eine soziale Gruppe verringern, muss die Ungerechtigkeit für eine andere soziale Gruppe zunehmen. Alles andere wäre eine Utopie, die zwar nicht der Realität entspricht, uns jedoch den Glauben an die Menschheit erhält. Es könnte sein, dass Mark Twain genau das meinte, als er schrieb „sein Wahnsinn hält ihn bei Verstand“.

Was also folgt daraus?

  1. Akzeptanz von Abweichungen: Wir sollten Abweichungen nicht als negativ betrachten. Krankheiten gehören genauso zur Gesundheit dazu wie Fehler zur Qualität oder kritische Meinungen zum Diskussionen.
  2. Illusionen als Antrieb im Leben: Auch wenn es frustrierend ist zu wissen, dass Illusionen lediglich dazu da sind, in unserem Geist eine Welt aufrecht zu erhalten, die in der Realität niemals genau so stattfinden wird, brauchen wir diese Wunschbilder von einer besseren Welt. Wir brauchen die Vorstellung von Gerechtigkeit am Arbeitsplatz oder die Vorstellung von gleichen Chancen für alle als Antrieb im Leben.
  3. Kompromisse in der Realität: Gleichzeitig brauchen wir die Fähigkeit, Kompromisse in der Realität auszuhandeln. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Vorstoß einer neuen Gerechtigkeit zu neuen Ungerechtigkeiten führt, ist es wichtig, auf daraus entstehende Machtkämpfe vorbereitet zu sein. Bekommt eine soziale Gruppe neue Privilegien, muss eine andere soziale Gruppe zurückstecken bzw. lernen sich solidarisch zu zeigen.