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Möglichkeiten und Folgen eines Gleichheitsansatzes

Ungleichheit als natürlicher Zustand

Seit jeher werden soziale Gebilde durch das Prinzip der Ungleichheit bestimmt, aufgrund der Größe, Stärke, des Wissens, der Intelligenz oder der Herkunft. Zwar gab es immer wieder das Bestreben, eine Art Gleichheit einzuführen, beispielsweise bei den Griechen. Diese war jedoch auf eine Gruppe von Privilegierten gemünzt, während sich andernorts die Ungleichheit fortsetzte. Oder die Ungleichheit wurde in andere Länder exportiert, um vor Ort mit ähnlichen Privilegien zu leben.

Der Startschuss zu einer umfassenderen Einführung des Gleichheitsgedankens fiel wohl bei einer Rede des damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson zur Gleichberechtigung der schwarzen Minderheit in den USA. Seitdem wird deutlich, dass eine vollkommene Gleichberechtigung schwerer zu erreichen ist als gedacht. Sobald eine ehemals benachteiligte Gruppe in der Bevölkerung durch eine positive Diskriminierung den Anschluss an die Mehrgesellschaft erreichen soll, wird beinahe automatisch eine andere Gruppe, meist diejenige der bisherigen Privilegierten negativ diskriminiert. Als Beispiel können in diesem Zusammenhang die Studienzugangsbestimmungen von Schweden gelten. Um mehr Frauen in Männerberufe zu bekommen, wurde für typische männliche Fächer eine Frauenquote eingeführt. Für ehemals weiblich dominierte Fächer wurde eine Männerquote eingeführt. Daraufhin klagten einige Frauen aufgrund der Benachteiligung, worauf die Männerquote wieder rückgängig gemacht wurde. Die Frauenquote wurde hingegen nicht zurückgenommen.

Wie komplex das Thema der Gleichberechtigung und Chancengleichheit ist, zeigt auf amüsante Weise die Serie „Frau Jordan stellt gleich“. Katrin Bauerfeind spielt darin Eva Jordan, eine Gleichstellungsbeauftragte in einer Kleinstadt. Dass sie es niemandem Recht machen kann, zieht sich als Prinzip durch die Serie. In einer Folge will ein ehemaliger Soldat, der in Afghanistan im Einsatz war, in einem Kindergarten arbeiten und bringt die Frauen dort auf die Palme, weil er den Kindern beibringt, auf Bäume zu klettern, Schrammen inklusive. Fazit der Eltern: Wir wollen mehr Männer in unserem Kindergarten, aber so einen nicht. In einer anderen Folge soll ein IT-Projekt von Frauen geleitet werden, worauf sich ein Ostdeutscher in der Verwaltung diskriminiert fühlt, weil er extra seinen Akzent unterdrückt, um nicht als Sachse erkannt zu werden. Die Arbeit in der Gleichstellung gleicht einer Sisyphosarbeit.

Die mittelfristigen Folgen einer Gleichbehandlung sind zudem oftmals unkalkulierbar. Als in den USA die Rassentrennung aufgehoben wurde, führte dies nicht automatisch zu einem besseren Umgang miteinander, sondern ganz häufig zu einer erneuten Trennung. Die reichen Weißen schickten daraufhin ihre Kinder in Privatschulen, worauf sich die vorhandene Ungleichheit weiter verstärkte. Auch wenn es aus moralischen Gründen ein sinnvoller Ansatz war, muss dennoch mit einem Rückschlag in eine Richtung gerechnet werden, der so nicht eingeplant war.

Die langfristigen Folgen wiederum sind noch weniger absehbar. Wird die vorhandene Ungleichheit der Menschen, die nun einmal da ist, nicht akzeptiert oder zumindest so abgefedert, sodass die weniger privilegierten zwar nicht den Anteil am Leben haben, den die Schnelleren, Klügeren, Durchsetzungsfähigeren, Mächtigeren oder Reicheren haben, aber dennoch gut leben können, besteht die Gefahr einer Fragmentierung der Gesellschaft. Mit einem mal könnte es dann das Volk als soziale Einheit nicht mehr geben, sondern lediglich Zugehörigkeiten zu einer Vielzahl schützenswerter Minderheiten. Einen Eindruck, wie weit dieser Minderheitengedanke gehen kann, haben wir bereits heute durch die Parzellierung im Internet. Jeder noch so obskure Gedanke findet einen Fürsprecher samt der Person dahinter. Der Ruf nach einer freien Meinungsäußerung geht auch in die Richtung, dass jede Meinung und damit Lebensphilosophie geäußert werden darf und damit schützenswert ist. Doch wo hört diese Schonzone auf? Der Amoklauf aufgrund der Karikaturen von Charlie Hebdo zeigt nur die Spitze des Eisbergs, auf dem wir alle stehen. Dass die Karikaturen von Charlie Hebdo verletzend sind und diskutiert wird, wie viele antiislamische Züge darin enthalten sind, ist die eine Seite. Aber wo hört die Freiheit nicht nur von Satire, sondern vor allem von Einzelpersonen und deren Meinungsäußerungen auf? Und wo beginnt das Recht aller anderen auf Gleichheit, Schutz und Unbehelligung? Wie viel Recht auf Freizügigkeit hat jeder von uns, ohne den Spott anderer auf sich zu ziehen? Darf ich im Internet meine Meinung sagen, ohne behelligt zu werden? Darf ich auf eine Demonstration gegen Corona-Maßnahmen gehen, ohne gekündigt zu werden? Darf ich Impfungen gegen Masern oder Corona verweigern?

Hier befinden wir uns wieder im Bereich der Ethik, wo Verstöße gegen vorherrschende Moralvorstellungen nicht per Gesetz geahndet werden, sondern per sozialer Ächtung.

Wie Gleichheit neue Ungleichheiten fördert

Gleichzeitig beginnt bei einer verordneten Gleichheit ein neues Rennen um Ungleichheit, als möchte sich der Mensch um alles in der Welt von anderen abgrenzen. So beginnt ein Rennen um das dauerhafte Bestreben zur Selbstoptimierung. Wir wollen eben doch besser als die anderen sein. Eine fundiertere Ausbildung genossen haben. Überhaupt gebildeter sein. Ein wenig mehr verdienen als der Nachbar. Ein schickeres Auto fahren. Ein Haus in einer ruhigeren Lage besitzen. Ein spannenderen Job ausüben. Freier sein, in dem was ich tue. Die eigenen Kinder besser erziehen, was auch immer das heißt. Moralisch gefestigter sein. Sich besser im Griff haben. Sich gesünder und umweltverträglicher ernähren. Ein E-Auto anstatt einen Diesel fahren. Eine schickere Nase haben. Einen teureren Anzug tragen. Sich schminken und auf Instagramm die spannenderen Geschichten erzählen. Bis hin zum Designerbaby, damit wenigstens die Kinder es einmal besser haben, indem sie sich von anderen abgrenzen. Abgrenzungen haben nicht automatisch mit Macht zu tun. Die Thematik der Besonderheit und damit Ungleichheit ist vielfältig. Aber der Mensch vergleicht sich gerne mit anderen, um zu verorten wie gut er ist.

Wer jedoch nicht imstande ist, dieses Rennen mitzumachen und am Ende noch alte Privilegien einbüßt, könnte die Wut über seine neue Unterprivilegierung in andere Richtungen verschieben. An die Urheber der sogenannten umgekehrten Diskriminierung, in der Regel den Staat oder die Medien als Vermittler neuer Moralvorstellungen, kommt er nicht heran. Also agiert er seine Wut anderweitig aus, beispielsweise im Internet mit Hasskommentaren oder mittels Gewalt in der Familie. Tatsächlich hat die Gewalt von Männern gegen die eigenen Ehe-Frauen stark zugenommen.

Möglichkeiten des Ausgleichs bei Ungleichheiten

Gewalttaten sollen damit selbstredend nicht gut geheißen werden. Das Phänomen der Aggressionsverschiebung soll lediglich verdeutlichen, welche langfristigen Folgen ein umfassender Gleichheitsanspruch nach sich ziehen kann. Wir sollten uns folglich gut überlegen, wie ein Gleichheitsansatz umgesetzt werden kann und welche negativen Folgen er nach sich ziehen könnte. So könnte der Gleichheitsansatz in Konflikten durchaus zu ungeplanten Verschiebungen von Aggressionen führen oder den Fokus auf dem Beharren der eigenen Rechte setzen. Streitet sich ein geschiedenes Paar um jede Minute, die sie mit dem eigenen Kind verbringen können, geht es lediglich um die Quantität, nicht jedoch um die Qualität der Zeit. Die Quantität mag gleich sein, die Qualität gerät dabei jedoch aus dem Fokus. Zudem stellt sich in solchen Fällen grundsätzlich die Frage, wie Gleichheit bemessen wird. In Konflikten Gleiches mit Gleichem zu verrechnen ist in der Regel nicht möglich. Das Elternteil, dass ein Kind unter der Woche betreut, erlebt die Zeit mit dem Kind anders als das Elternteil, das sein Kind am Wochenende hat. Und wie sieht es mit dem ganz normalen Kommunikationsaustausch aus? Wer hört besser zu? Wer schenkt dem anderen mehr Aufmerksamkeit?

Wir werden eine vollkommene Gleichheit niemals erreichen. In Konfliktparteien gibt es immer eine Person, die schneller denkt, spricht und handelt. Deshalb ist es wichtig, über Möglichkeiten nachzudenken, vorhandene Ungleichheiten annähernd auszugleichen:

  • Ein Ausgleich im Sinne einer 1 zu 1-Aufrechnung sollte verhindert werden.
  • Auch Racheakte sollten vermieden werden.
  • Wer sich benachteiligt fühlt, hat das Recht und die Pflicht, dies anzusprechen. Er sollte nicht darauf hoffen, dass der andere die Ungleichheit bemerkt, sondern selbst aktiv werden.
  • Der Schuldner sollte einen Ausgleich anbieten. Der Benachteiligte bestimmt jedoch, ob er diese Art der Wiedergutmachung annehmen möchte oder nicht. Eine dauerhafte Ablehnung sollte jedoch vermieden werden, um nicht in ein Machtspiel zu kommen.
  • Der Ausgleich sollte ernst gemeint sein und auf der Basis der Bedürfnisse geschehen. Es ist sinnlos, sich darüber zu streiten, wer wem länger oder besser zuhört. Sinnvoll ist jedoch zu klären, warum wir einander zuhören sollten. So könnte das Bedürfnis von Person A sein, logisch verstanden zu werden, während Person B emotional wertgeschätzt werden möchte.

Literatur: Van Creveld, Martin (2018): Gleichheit – Das falsche Versprechen. Manuscriptum Verlagsbuchhandlung

Moralische Dimensionen in Konflikten

Der Moralpsychologe Jonathan Haidt schreibt auf seiner Webseite: „Wir sind nicht gut darin, offen über moralische Fragen nachzudenken, so dass rationalistische Modelle letztlich schlechte Beschreibungen der tatsächlichen moralischen Psychologie sind.“

Haidt nutzt die Metapher des Elefantenreiters, um zu erklären, warum es so schwer ist, über Moral zu diskutieren. Die Metapher beschreibt, wie unser Unbewusstes unser bewusstes Denken lenkt. Unser Geist ist in Teile untergliedert, die manchmal in Konflikt geraten. Der Reiter auf dem Rücken eines Elefanten hat als bewusster Teil nur eine begrenzte Kontrolle darüber, was sein Elefant tut. In vielen Fällen ist der Reiter seinem Elefanten geradezu ausgeliefert, bietet jedoch im Nachhinein Post-hoc-Erklärungen für das, was der Elefant getan hat, sucht nach Gründen, um diese zu rechtfertigen und agiert damit wie ein Anwalt oder Pressesprecher.1

Zumindest für unser Denken gilt also der Spruch von Pipi Langstrumpf: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.

Der Elefant erinnert an Platons Wagenlenker oder Sigmund Freuds Über-Ich. Auch dieses wurde uns im Laufe unserer Sozialisation vermittelt und wanderte schließlich in unser Unbewusstes. In früheren Zeiten galt das Unbewusste jedoch eher als etwas Böses, dass entweder unterdrückt oder aufgearbeitet werden sollte. Durch die Erkenntnisse aus der Gehirnforschung wissen wir jedoch, wie klug unser Unbewusstes uns durch das Leben leitet. Während man sich als Führungstrainer vor 15 Jahren noch den Mund auswaschen musste, wenn man das Wort Intuition in den Mund nahm, gilt es mittlerweile als Führungskunst, auf sein Bauchgefühl zu hören.

Haidt erklärt mit Hilfe der Moralpsychologie, wie politische Spaltungen zwischen Demokraten und Republikanern in den USA funktionieren. Jede dieser Welten bietet eine vollständige und emotional überzeugende Weltanschauung, die durch beobachtbare Beweise gerechtfertigt und nahezu uneinnehmbar ist, um durch Argumente von Außenstehenden angegriffen zu werden. Haidt sagt dazu: Moral sorgt einerseits dafür, dass wir uns einer Gemeinschaft verbunden fühlen. Gleichzeitig macht sie uns blind. Haidt nutzt dazu eine weitere Metapher. Er meint, wie wären zu 90 Prozent Schimpansen und zu 10 Prozent Bienen: Wir sind von Natur aus egoistisch, besitzen jedoch die Fähigkeit, unsere eigenen Interessen im Wettbewerb mit anderen zu fördern oder mittels Kooperationen mehr zu erreichen als alleine.2

Moralisches Urteilen ist also kein rein logischer Prozess, in dem wir Bedenken hinsichtlich möglichen Schäden, Rechten oder Gerechtigkeit abwägen, sondern ein schneller, automatischer Prozess, der eher den Urteilen ähnelt, die Tiere treffen, wenn sie sich wendig durch die Natur bewegen. Das moralische Urteil ist die Domäne des Elefanten. Wenn Sie versuchen, jemandes Meinung zu ändern, sollten Sie mit dem Elefanten sprechen und nicht mit dem Reiter.3

Seine Überlegungen gelten zwar zuerst einmal für die Politik, insbesondere die Dualität in den USA. Sie lassen sich jedoch wunderbar auf andere duale Konflikte wie beispielsweise in der Corona-Krise übertragen. Haidt beschreibt diese Weltanschauungen als moralische Matrizen, die uns helfen, zu verstehen, warum manche Menschen alles aggressiv abwehren, was ihr Weltbild infrage stellt.

Er geht von sechs universellen moralischen Modulen aus, die in unterschiedlichem Maße über Kultur und Zeit hinweg aufgebaut werden:4

  1. Fürsorge vs. Schaden: Diese moralische Basisgrundlage hängen mit unserer langen Entwicklung als Säugetiere mit Bindungssystemen und der Fähigkeit zu Empathie zusammen. Zugrunde liegende Tugenden lauten Güte, Geduld, Sanftmut und Fürsorge.
  2. Fairness vs. Betrug: Diese moralische Weltsicht bezieht sich auf den Evolutionsprozess des wechselseitigen Altruismus. Zugrunde liegende Tugenden lauten Gleichheit, Gerechtigkeit und die autonome Gestaltung eines guten Lebens.
  3. Loyalität vs. Verrat: Diese Grundlage hängt mit unserer Ur-Geschichte als Stammeswesen zusammen, die in der Lage sind, wechselnde Koalitionen zu bilden. Zugrunde liegende Tugenden lauten Patriotismus und einseitiger Altruismus. Wer sich in diesem System befindet geht nach dem Musketierslogan aus: Einer für alle und alle für einen!
  4. Autorität vs. Subversion: Diese moralische Grundlage wurde durch unsere lange Primatengeschichte hierarchischer sozialer Interaktionen geprägt. Die zugrunde liegenden Tugenden lauten Führung und Gefolgschaft, Respekt gegenüber Autoritäten, Orientierung an Experten und Traditionen.
  5. Heiligkeit vs. Erniedrigung: Diese Grundlage wurde von der Psychologie der Entwicklung von Ekels und der „Sauber-Werdung“ geprägt. Wichtig sind dabei die kulturellen und religiösen Ideen einer erhöhten, weniger fleischlichen, zivilisierten Art zu leben. Der Mensch sollte sich nicht von seinen Instinkten leiten lassen. Der Körper ist ein Tempel, der nicht durch unmoralische Gedanken und Aktivitäten entweiht werden sollte. Die zugrunde liegenden Tugenden sind ein guter Zugang zum eigenen Körper, der Gesundheit und den eigenen Bedürfnissen bzw. den Bedürfnissen anderer Menschen.
  6. Freiheit vs. Unterdrückung: In dieser moralischen Basisdimension geht es um die Gefühle der Reaktanz gegenüber der Beschränkung persönlicher Freiheitsrechte. Der Impuls zur Gegenwehr kann darauf fußen, sich selbst zu verteidigen oder andere in Schutz zu nehmen, die gemobbt werden bzw. sich gegen Unterdrücker zu widersetzen. Zugrunde liegende Tugenden sind ein gutes Gespür für Unterdrückung und die Fähigkeit, sich selbst zu helfen, wenn es schwierig wird.

Ordnen wir die sechs moralischen Dimensionen in eine politische Links-Rechts-Matrix ein, ergeben vier große Gruppen:

Kollektiv LinksKollektiv Rechts
Fürsorge: Den Schwachen muss geholfen werden. Schädigung: Wer Hilfsbedürftige durch sein Verhalten bedroht, muss bestraft werden. Fairness: Alle sollten das gleiche Recht auf gesellschaftliche Anteilnahme und Ressourcen haben. Betrug: Trittbrettfahrer müssen bestraft werden.Loyalität: Verhalte dich loyal zu jemandem, der dich schützt. Bilde Koalitionen, damit die Ordnung gewahrt bleibt. Verrat: Wir gegen die anderen. Autorität: Vertraue Experten und Autoritäten. Subversion / Umsturz: Mächtige sollten in Koalitionen eingebunden werden, um deren Macht zu bändigen.
Individuell LinksIndividuell Rechts
Freiheit / Unabhängigkeit: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Niemand wird zu seinem Glück gezwungen. Unterdrückung: Angst vor einem Kontrollstaat oder der Entmündigung des eigenen Lebens mittels Algorithmen.Heiligkeit: Ich kümmere mich um meinen Körper und meine Gesundheit selbst. Entweihung: Ich habe ein Recht auf die Unverletzlichkeit meines Körpers, meiner Wohnung oder meiner Religion.

Auch wenn niemand in einem der vier Kästen dauerhaft zu verorten ist und es stetige situative Wechsel gibt, lassen sich damit die Grundlagen von Konflikten gut erklären, insbesondere wenn besonders aggressiv gekämpft wird.

Haidt vergleicht die sechs moralischen Dimensionen mit einer Küche. Die Gewürze und Zutaten müssen vorhanden sein. Gleichzeitig bringt jede Küche genauso wie jeder Koch eine Geschichte mit. Welche Erfahrungen sind bereits vorhanden? Ist die Küche eingefahren Deutsch? Oder wird stetig etwas Neues ausprobiert? Die Küche bringt genau wie ein Land, eine Partei, ein Unternehmen, ein Team, eine Familie oder ein Paar bereits eine Kultur mit. Doch auch, wenn alle Rezepte, Gewürze und Zutaten der Welt vorhanden sind, müssen diese auch genutzt werden.5

Es geht also darum, sich sowohl den eigenen Elefanten als auch in Konflikten das Verhältnis zwischen Schimpanse und Biene bewusst zu machen und stetig auf der Suche nach den 10% Verbindungen zu sein, die mir wiederum helfen, mein 90% Schimpansen-Leben zu ermöglichen.

1Vgl. https://fee.org/articles/escape-the-moral-matrix-with-the-red-pill-of-intellectual-diversity

2Vgl. https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/jonathan-haidt-the-moral-matrix-breaking-out-of-our-righteous-minds

3Vgl. https://fee.org/articles/escape-the-moral-matrix-with-the-red-pill-of-intellectual-diversity

4Vgl. https://moralfoundations.org

5Vgl. https://blogs.scientificamerican.com/guest-blog/jonathan-haidt-the-moral-matrix-breaking-out-of-our-righteous-minds

Persönliche Transformationsprozesse in Krisenzeiten

In Krisenzeiten werden wir gezwungen uns mit einer drastischen Veränderung sowie unserem Umgang damit auseinander zu setzen. In der Regel reagieren wir auf die Veränderung aus einem ersten Impuls heraus. Manche spüren automatisch den Impuls des Widerstands. Andere würden am liebsten den Kopf in den Sand stecken, bis alles vorbei ist. Wieder andere haben Vertrauen in diejenigen, die für uns die wichtigen Entscheidungen treffen. Und eine vierte Gruppe versucht sich kritisch mit dem Thema der Veränderung auseinanderzusetzen. Dieser erste Impuls hilft uns dabei handlungsfähig zu bleiben. Für einen tieferen persönlichen Transformationsprozess ist es jedoch sinnvoll, sich intensiver damit auseinander zu setzen, was uns wirklich bewegt, was wir verändern und was wir dafür tun wollen.

Zur persönlichen Reflexion können Sie entweder einzelne Spalten oder die Zeilen dieser Heuristik durchgehen. Ein Springen zwischen Spalten und Zeilen führt aus meiner Erfahrung zu den erhellendsten Erkenntnissen.

Ausgehend von den vier impulsiven Reaktionsmöglichkeiten stellen sich im 1. Transformationsschritt des Abstands die Fragen, wogegen ich rebelliere, worauf ich mich bei mir selbst konzentrieren will und was das Ziel einer Auseinandersetzung mit mir selbst ist, auf wen oder was ich vertraue und mit welchen Themen ich mich kritisch weiter und tiefer auseinandersetzen möchte.

Im 2. Transformationsschritt geht es um die Neugier. Eine tiefere Auseinandersetzung mit meinem Gegen-Über könnte dazu führen, dass ich mir bewusst werde, was an meinem Ärger interessant ist, was ich selbst für ein Mensch bin und welche Rolle ich in meinem Umfeld spiele, woher mein Vertrauen kommt und um welche Themen es in der Veränderung zusätzlich oder wirklich geht. In der Corona-Krise geht es beispielsweise nicht nur um die Krankheit, sondern auch um Debatten zur Gleichbehandlung, Teilhabe, Diskussionskultur, Freiheit, Umweltproblematik, Überwachung, Rolle der Medien, zum Präventivstaat, Umgang mit dem Tod, usw. Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen sind deshalb so schwer zu (be-)greifen, weil in ihnen all diese tiefer liegenden Themen durcheinander auftreten.

Im 3. Transformationsschritt schließlich geht es um die Handlungen. Wogegen will ich konkret aufbegehren? Was will ich an mir verändern? Wie kann ich wieder Vertrauen zu anderen fassen? Was sollte ich dafür tun? Und was kann ich tun, um die Welt so mit zu gestalten, wie ich es für wünschenswert erachte?

Wenn Perfektionismus zu Konflikten führt

In einer Welt, in der jeder einzelne aufgrund von Testverfahren und Methoden, von denen wir früher nur träumen konnten, immer detaillierter weiß, wo der Hase lang läuft, sind Konflikte vorprogrammiert. Das lässt sich am einfachen Zusammenspiel zwischen Mann und Frau verdeutlichen: Wenn der Mann sagt, der Junge muss männlicher werden und alles dafür tut, seinen Sohn in der Jagd auszubilden, wird er schnell mit seiner Frau in einen Clinch geraten, weil seine Frau der Meinung ist, der Junge muss empathischer werden, weil er es sonst in einer Welt, in der wir miteinander reden müssen, schwer haben wird. Ich greife auf dieses zugegeben extrem vereinfachende Beispiel zurück, um zu verdeutlichen, dass ein sehr empathischer Mensch sich schwer damit tun wird, ein Reh aufs Korn zu nehmen, während ein auf Jagdinstinkte gedrillter Mensch sich mit Empathie schwer tun wird.

Mann und Frau wurden aus dem Paradies vertrieben, weil sie erkannten, wie unterschiedlich sie sind. Im Garten Eden waren sie bis zum folgenreichen Apfelbiss eins. Über die Frage ob dieser glückseelige Zustand von der Bibel tatsächlich ernst gemeint ist oder lediglich das Eins-Sein mit Gott symbolisch darstellen soll, lässt sich trefflich philosophisch streiten. In der realen Welt jenseits paradiesischer Zustände befinden wir uns in einer Welt der Gegensätze: Mann-Frau, Krieg-Frieden, Schwarz-Weiß, An-Aus, Positiv-Negativ, Reich-Arm, usw. Diese Liste ist endlos und bestimmt meinen mediativen Alltag. Auch in der Corona-Krise bestimmen Gegensätze den Diskurs: Eltern-kinderlos, Nähe-Distanz, Stadt-Land, Links-Rechts und natürlich Perfektionismus-Ganzheitlichkeit.

Wären wir noch im Paradies, gäbe es zwar keine Aufklärung und kein Wissen, jedoch auch keine Konflikte. Offensichtlich machen schlangenartige Erkenntnisse klug, aber nicht unbedingt glücklich. Alle Menschen wären gleich und müssten über nichts diskutieren. Es herrschte Frieden auf Erden, vielleicht ja unter der Aufsicht einer Weltreligion und Weltregierung, die allen Menschen vorgeben würde, was wir zu tun und was wir zu lassen hätten. Vermutlich wären wir glückselig. Deshalb sagte Jesus wohl: Selig sind die Einfältigen (Matthäus 5, 3). Denn sie sind nicht vielfältig und müssen daher nicht miteinander streiten.

Dass eine solche Friedhofsruhe in unserem Leben nicht möglich ist, sehen wir tagtäglich. Sobald Annegret sagt: Ich mag monochrome Bilder, begehrt Heinrich auf, weil er seine Bilder viel lieber in Farbe hat. Wenn wir Diversität und Vielfalt ernst nehmen, akzeptieren wir gleichzeitig Konflikte. Annegret und Heinrich könnten sich streiten … oder zu einem Modus der Wechselseitigkeit kommen. Ein vielfältiger Konflikt lässt sich niemals im Moment auflösen, sondern erst durch die Dimension der Zeit. Deshalb legen Mediatoren so viel Wert auf einen sauber durchgeführten Mediations-Prozess. Natürlich könnten sich Annegret und Heinrich zwei Kameras kaufen und jeder schießt seine Bilder für sich. Damit hätten sie den Konflikt durch eine Aktion der Trennung befriedet. Ganz zufrieden werden sie damit nicht sein. Dies wird ihnen spätestens dann klar, wenn sie symbolisch gemeinsam auf einem Foto sein wollen. Erst wenn Annegret und Heinrich sich darauf einigen, ihre Bilder mal schwarz-weiß und mal bunt anzufertigen oder sie nachträglich so zu bearbeiten, wie jeder es gerne möchte, ist eine Lösung möglich. Genau dieses ‚Mal so, mal so‘ oder ’nachträglich‘ verdeutlicht die Prozesshaftigkeit der Konfliktlösung. Damit wird allerdings auch deutlich, dass eine Konfliktlösung schwer herzustellen ist, wenn jeder der beiden perfektionistisch auf seiner Vorgehensweise beharrt.

Das gleiche Prinzip sehen wir in der aktuellen C-Krise. Während die eine Seite der Virologen immer mehr Details erforscht über die Streuwirkung von Aerosolen und die Anzahl der Viren, die wir täglich auspusten, ziehen die Seiten der Kinder- und Altenrechtler Erkenntnisse aus dem Hut, die uns daran erinnern, dass der Mensch mehr braucht als nur einen Schutz vor sich selbst. Mikrobiologen sprechen davon, dass unser Immunsystem den Mikrobentausch mit anderen braucht. Und Psychologen erinnern an die alten Studien mit den Pseudoaffen von Harry Harlow Ende der 50er Jahre (siehe https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ein-grundnahrungsmittel oder https://www.youtube.com/watch?v=OrNBEhzjg8I).

In der Diskussion um den richtigen Weg aus der Krise wird von Virologen angemahnt, dass es nun in Deutschland 80 Millionen Hobby-Virologen gibt. Dieser Vorwurf greift jedoch zu kurz, da es vielmehr um die Frage der Diversität in der Meinungsbildung geht.

Es fällt schwer zu akzeptieren, dass man selbst von seinen Erkenntnissen ein Stück Abstand nehmen muss, um gemeinsame Lösungen zu erreichen. Die Realität unseres dualistischen Lebens der Gegensätze zeigt uns jedoch, dass wir nicht nur mit dem Virus leben müssen, sondern auch mit unterschiedlichen Meinungen, Wahrheiten und Erkenntnissen. Toleranz im Sinne eines Aushaltens fremder Erkenntnisse bedeutet in diesem Sinne die Wertschätzung des perfektionistischen Bemühens jeder Seite ohne den gemeinsamen Konsens aus dem Blick zu verlieren.

Auch wenn jeder in seiner eigenen kleinen Welt zu 100% recht hat, gilt es in der Gemeinschaft Einigungen anzustreben. In diesem Wort der Einigung schwingt zumindest ein kleiner Funke unseres ursprünglichen Paradieses mit.

Umgang mit extremen Meinungen

Je größer die Ängste werden, desto größer werden die im Netz aufgefahrenen Geschütze. Da ist von Mord die Rede, wenn Impfkritiker sich nicht impfen lassen. Gleichfalls könnte die Gegenpartei von Mord sprechen, wenn wir die Einsamkeit alter Menschen in Pflegeheimen betrachten. Manche wünschen sich sogar eine Erhöhung der Fallzahlen aufgrund der Demonstrationen, damit die andere Seite endlich merkt, wie ernst es ist. Bildchen mit der Ziehung der Infektionszahlen durch das RKI machen die Runde.

Andere zu überzeugen funktioniert nicht. Auch nicht mit lustig gemeinten Bildern oder kurzen Animationen, die ein schamvolles Gesicht zeigen, um der Gegenseite zu verdeutlichen, wie dumm ihr Verhalten doch ist und dass sie sich bitte schämen sollte. Scham ist genauso unangenehm wie Angst und wird nicht selten zu Wut. Damit ist nichts gewonnen. Was humorvoll gemeint ist oder aus Hilflosigkeit eingesetzt wird, damit die Gegenseite es endlich kapiert, schraubt die Eskalationsspirale nur noch höher.

Marshall Rosenberg meinte einmal: Du kannst recht haben oder glücklich sein. Beides zusammen wird schwierig.

Mediale Lagerbildungen

Wenn die Ängste zunehmen, werden auch die Mittel drastischer, die jeweils andere Seite zu überzeugen. Die Medien tun ihr übriges, um die Lagerbildung voran zu bringen. Wir Deutschen kennen das kaum. Wir hatten noch kein Brexit-Trauma, allenfalls regionale Stuttgart21-Erfahrungen. Wir haben glücklicherweise kein Zweiparteien-System, das zu einer Spaltung der Bevölkerung führt wie in den USA oder in Großbritannien. Vielleicht ist es gerade jetzt ein Problem, dass eine große Koalition in der Regierung sitzt. Dennoch leben wir immer noch in einer Demokratie mit einem mittlerweile wieder lebendigeren Parlament. Manche wünschen sich eine andere Ausrichtung unseres Gesundheitswesens und begreifen die aktuelle Situation als Möglichkeit der Weichenstellung. Weg von einem mechanistischen Denken des Pillenschluckens und Impfens, hin zu einem ganzheitlicheren Gesundheitsdenken jenseits des Pharmalobbyismus. Wir leben in einem fortschrittsgläubigen System, in dem vielleicht der Mensch an sich aus dem Blick gerät. Wir leben jedoch nicht in einer Gesundheitsdiktatur, zumindest solange jeder Mensch selbst entscheiden kann, wie er gut für sich sorgt.

Die Medien berichten nicht so, wie es sich manche wünschen. Eine gewisse Einseitigkeit wurde bereits Anfang April vom Evangelischen Pressedienst angemahnt. Dennoch leben wir nicht in einer Meinungsdiktatur. Es gibt kritische Artikel aus dem Fokus, Spiegel, Deutschlandfunk oder Freitag, um die bekanntesten zu nennen. Und Dieter Nuhr schüttet regelmäßig zünftige Kritik über der Regierung und das RKI aus.

Wir sind vielfältig

Deutschland scheint derzeit aus zwei Lagern zu bestehen: Den Maßnahmengegnern und den -befürwortern. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies jedoch nicht:

  • Es gibt sanfte Kritiker, die sich nicht äußern,
  • starke Kritiker, die auf die Straße gehen,
  • Menschen, die sich solidarisch zu den Risikogruppen positionieren und andere die sich solidarisch zu Maßnahmengefährdeten positionieren,
  • rechte Krawallbrüder und -schwestern,
  • radikale Impfgegner und Impfkritiker, die Angst vor einem zu kurz getesteten Impfstoff haben,
  • Menschen, die ihren Job verloren haben und andere, die ihn noch haben,
  • Systemrelevante und Systemirrelevante,
  • Dauerbelastete im Gesundheitswesen und andere, die ihren erzwungenen Kurzurlaub genießen,
  • alte Menschen, die Angst um ihre Gesundheit haben und junge Menschen, die Angst um unseren Planeten haben,
  • Selbständige, Künstler, Gaststättenbetreiber, etc., die nicht wissen, wie es weitergeht und andere, deren Zukunft gesichert ist.

Die „Lager“ sind wesentlich vielfältiger als sie oftmals dargestellt werden. Viele Medien machen hier nicht gerade einen mediativen Job.

Was also tun?

Was können wir tun, um wieder zu erkennen, dass wir mehr sind als nur einem Lager zuzugehören?

Denken wir an die Reproduktionszahl des RKI. Wenn jeder und jede von uns einen Zugang zu einer Person findet, ist bereits viel gewonnen. Hier geht es jedoch nicht darum, die Gegenseite zu überzeugen, sondern darum, ihr sein Verständnis zu schenken. Ich gehe davon aus, dass die wenigsten von uns Extremisten sind. Ein Austausch, ein offener Diskurs sollte also möglich sein.

Anstatt meine Meinung zu äußern kann ich eine Frage stellen. Ich kann mich nach den Sorgen meines Gegenübers erkundigen. Ich kann meine eigenen Sorgen äußern. All das sind Angebot, die aus meiner Erfahrung meistens angenommen werden.

Im Netz ist das nicht immer einfach. Die Ängste, die wir haben, werden durch die Bildung von Lagern paradoxerweise nicht reduziert, sondern verwandeln sich in einen Kampf darum, wer recht hat. Warum also nicht 2-3 mal die Woche zum Telefonhörer greifen und einen Freund oder eine Freundin anrufen, mit dem oder der wir derzeit fremdeln?

Wir haben alle Angst. Sprechen wir darüber.