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Einfach sein in einer komplexen Welt

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Von der Faszination der Einfachheit

„Mama told me when I was young
Come sit beside me my only son
And listen closely to what I say
And if you do this it′ll help you
Some sunny day.
Oh take your time don’t live too fast
Troubles will come and they will pass
Go find a woman and you′ll find love
And don’t forget son there is someone up above
And be a simple kind of man
Oh be something you love and understand
Baby be a simple kind of man
Oh won’t you do this for me son if you can“

So sangen es einst Lynyrd Skynyrd in ihrem Song „Simple Man“.

Einerseits hat die Maxime der Einfachheit 50 Jahre später aufgrund einer unüberschaubaren Welt inklusive Pandemie, Krieg und Umweltthematik an Faszination eher noch zugenommen. Andererseits hat die Einfachheit oft einen Beigeschmack von Dummheit, als würde dem einfachen Menschen die Intelligenz fehlen, sich mit schwierigen Themen auseinander zu setzen. Wer in der Öffentlichkeit punkten will, muss sich gut präsentieren können und kluge Sätze von sich geben.

Wie also lässt sich dieser vermeintliche Widerspruch auflösen?

Die Kernfrage hier lautet: Warum will ich einfacher leben?

Einfachheit als intuitive Fokussierung

Ist es wirklich klug, sich in der Komplexität der Welt zu verlieren? Die Komplexität der Welt ist ein Fakt. Politische Entscheidungen sind komplex. Die Umweltthematik ist komplex. Beziehungen sind komplex. Führung ist komplex. Der Umgang mit Kunden ist komplex. Grundsätzlich ist alles Menschliche komplex. Anders formuliert: Egal was du tust, irgend jemand ist immer unzufrieden.

Sich diese Tatsache des Menschseins bewusst zu machen, sie wahr- und anzunehmen ist eine Sache. Ich kann jedoch gleichzeitig Komplexität wahrnehmen und einfach handeln, indem ich zeitliche oder inhaltliche Prioritäten setze: So wie keine Theorie zu 100% in die Praxis umgesetzt werden kann, bedeutet Handlungsfähigkeit auch, sich in der Umsetzung einer Handlung auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Sowohl seinen Anforderungen in der Arbeit als auch seinen Beziehungen kann ein Mensch niemals zu 100% gerecht werden. Einfach zu sein bedeutet, trotz des Wissens um mögliche Verfehlungen oder Fehlentscheidungen das zu tun, was genau jetzt richtig und wichtig erscheint:

  • Genau jetzt kümmere ich mich um diesen einen Azubi, weil er genau jetzt meine Hilfe braucht. Für diesen Moment vergesse ich alle anderen anstehenden Anforderungen, denen ich erst später gerecht werden kann.
  • Genau jetzt rufe ich bei einem Freund an und frage ihn wie es ihm geht, weil mir das genau jetzt wichtig erscheint.
  • Genau jetzt verschweige ich meiner Partnerin, dass ich mir Sorgen um etwas mache, weil es genau jetzt nicht zeitlich passend ist.

Einfachheit hat folglich viel mit Intuition, Bauchgefühl und Spontaneität zu tun, und damit mit einer kindlichen Natürlichkeit, die wir im Alter meist eher haben als als Kind. Denn als Kind orientieren wir uns noch sehr an Äußerlichkeiten. Im Alter haben wir idR. die Chance, uns von solchen Zwängen zu lösen.

Die Kernfrage hier lautet: Was sagt mir genau jetzt mein Bauchgefühl?

Wäre es so schlimm, diesem Gefühl spontan zu folgen? Es könnte am Ende das Leben lebendiger machen.

Einfachheit bedeutet eindeutig sein

Wer sich auf die Komplexität der Welt beruft, sagt damit auch aus, dass er sich nicht entscheiden kann oder will, weil er dieser Komplexität letztlich niemals gerecht wird. Dass wir uns mit jeder Entscheidung für etwas gleichzeitig auch gegen etwas ent-scheiden, macht die eigentliche Schwierigkeit in Entscheidungen aus:

  • Wenn ich dem Azubi helfe, bleiben andere Aufgaben liegen, was zu anderen Enttäuschungen führen kann.
  • Wenn ich diesen einen Freund anrufe, kann ich jemand anderen nicht anrufen oder einem Hobby nicht nachgehen, auf das ich ebenso gerade Lust hätte.
  • Wenn ich meiner Partnerin meine Sorgen verschweige, könnte sie mir später Vorwürfe darüber machen, dass ich nichts gesagt habe.

In allem, was wir tun besteht folglich eine Zwiespältigkeit. Auch hier gilt: Ich sollte diese Dilemmata erkennen und dennoch handeln. Anders formuliert: Wenn ich mich in diesen Dilemmata verliere, bin ich entweder handlungsunfähig oder aber ich handle im wahrsten Sinne des Wortes halbherzig. Dann …

  • … helfe ich widerwillig.
  • … rufe aus einem Pflichtgefühl heraus an.
  • … sage zwar nichts, bin aber dennoch schlechter Laune.

Einfach zu sein bedeutet folglich, in genau diesem Moment eindeutig statt doppeldeutig zu sein. Muss ich dafür schauspielern? Vielleicht. Oder aber ich mache mir bewusst, dass ich genau jetzt einen Teil meines Ichs lebe und später einen anderen Teil. Schließlich ist niemandem mit einer unzufriedenen Doppeldeutigkeit geholfen. Der Azubi wird ein schlechtes Gewissen haben. Der Freund und die Partnerin wissen nicht, woran sie sind.

Die Kernfrage hier lautet: Was ist genau jetzt dringend und wichtig?

Einfachheit als Ehrlichkeit

Wer einfach ist, hat keine Hintergedanken. Er agiert nicht, um sich darzustellen. Er denkt nicht daran, wie er bei anderen ankommt. Er muss sich nicht präsentieren, um etwas zu erreichen. Er ist einfach nur er selbst. Er sagt, wenn es ihm schlecht geht, damit sich sein Gegenüber keine Gedanken machen muss. Er denkt nicht an morgen, sondern nur daran, jetzt ein gutes Gespräch zu führen.

Das ist nicht zu verwechseln mit brutaler Direktheit. Auch höfliche, zuvorkommende oder diplomatische Menschen können einfach sein, wenn die Höflichkeit und Diplomatie ehrlich und angemessen ist. Denn auch Höflichkeit und Diplomatie können Hintergedanken haben. Haben sie es nicht, sondern dienen dem gerade jetzt stattfindenden Gespräch, passen sie sehr gut zur Einfachheit.

Die Kernfrage hier lautet: Wie mache ich es meinem Gegenüber möglichst einfach?

Einfachheit bedeutet mutig zu sein

Sich dergestalt für diesen einen Moment auf eine Handlung festzulegen ist mutig. Immerhin kann später der Vorwurf kommen, dass ich mich genau dafür entschieden habe. Dies erfordert folglich nicht nur Mut, sondern auch eine Reflexionsfähigkeit jenseits einfacher Bauchgefühle. Ich muss also wissen, warum und wofür ich in diesem Moment genau so entschieden habe. Lag es an der Bedürftigkeit des Azubis? Ist das letzte Telefonat schon so lange her? Oder ist die Stimmung gerade ungünstig und die Zeit nicht vorhanden für ein intensives Gespräch?

Die Kernfrage hier lautet: Worum geht es gerade wirklich?

Einfachheit bedeutet demütig zu sein

Ein Mensch alleine kann weder die Welt retten, noch seiner eigenen Welt jederzeit gerecht werden. Er kann es allenfalls nach und nach. Zudem kann der Mensch nicht in die Zukunft blicken. Er weiß nicht, welche Konsequenzen seine Handlungen nach sich ziehen. Diese Unvollkommenheit erfordert Demut. Der einfache Mensch weiß um seine Unvollkommenheit und konzentriert sich darauf, das zu tun, was in seiner Macht liegt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Kernfrage hier lautet: Was kann ich tun, um meine Welt ein klein wenig besser zu machen?

Einfachheit als Achtsamkeitsübung

In einer komplexen Welt gibt es mehr Angebote als wir jemals verarbeiten können. Während ich in meiner Studienzeit schon aus Geldgründen monatlich maximal zwei CDs kaufte und diese solange hörte, bis ich sie auswendig kannte, bieten heute Spotify und Co. mehr Auswahl als ich jemals hören könnte. Das gleiche gilt für Filme oder Bücher ebenso wie für potentielle Projekte oder Marketingstrategien. Das Paradoxe daran ist: Je mehr Wissen und Kompetenzen ich habe, desto mehr Zugang und Auswahl habe ich auch.

Das Leitprinzip der Achtsamkeit besteht in der Konzentration darauf, was ich genau jetzt wahrnehme. Entweder ich schaue mir einen Film an oder ich esse mein Abendessen. Wer beides gleichzeitig macht, nimmt beides nur zur Hälfte wahr und kann sich – wie der Soziologe Hartmut Rosa schreibt – von nichts von beidem affizieren lassen. Solche Doppelhandlungen machen zudem unglücklich. Oberflächlich betrachtet sparen wir Zeit. In Wirklichkeit verschwenden wir jedoch Lebenszeit.

Einfachheit im Sinne von Achtsamkeit bedeutet, sich auf eine Quelle der Wahrnehmung zu fokussieren. Wenn wir wandern, konzentrieren wir uns auf die Natur und denken nicht an das anstehende Projektmeeting in der nächsten Woche. Wenn wir essen, konzentrieren wir uns auf den Geruch und Geschmack des Essens. Wenn wir einen Film ansehen, lassen wir uns von der Atmosphäre oder Spannung des Films mitreißen. Wenn wir ein Gespräch führen, konzentrieren wir uns auf das Gespräch. Wenn wir jemandem helfen, tun wir das mit ganzem Herzen.

Die Kernfrage hier lautet: Was fasziniert mich an dem, was ich gerade mache und worauf sollte ich mich deshalb genau jetzt konzentrieren?

Selbstcoaching-Leitfaden

Neulich in einem Seminar zum Thema Work Life Balance kam die Frage auf, was ich tun kann, wenn das Mikrotraining zu Ende (es dauerte immerhin 6 Wochen lang) und der Coach des Vertauens (also ich) nicht mehr da ist? Wie schaut es also aus mit dem Transfer nach einem Seminar?

Natürlich gibt es die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden. Und manchmal passiert das auch. Gerade längere Mikrotrainings (6 * 1,5 Stunden inklusive Wochenaufgaben) schaffen einen guten Raum für Verbindungen zwischen den Teilnehmer*innen. Eine Seminarteilnehmerin erzählte beispielsweise davon, dass sie einen anderen Teilnehmer auf einer Veranstaltung traf und ihn fragte, wie es gerade läuft mit Pausen machen, um einer Überarbeitung zu begegnen. Aber letztlich sind das die Ausnahmen. Bleiben wir also realistisch.

Und genau dieser Realismus führte zu den folgenden Selbstcoachingfragen, die einen Großteil der Seminarinhalte noch einmal wiederspiegelten.

Ein solches Selbstcoaching ist aimmer dann sinnvoll, wenn Sie sich überlastet fühlen, demotiviert sind oder sich ganz einfach die Frage stellen: Was mache ich hier eigentlich gerade?

Sinnhaftigkeit und Ziele

  • Was mache ich gerade?
  • Wofür / für wen mache ich das?
  • Inwiefern passt das, was ich gerade mache, zu meinen langfristigen Zielen?

Aufgabenqualität und Perfektionismus

  • Muss oder will ich die Aufgabe perfekt abliefern?
  • Woher kommt das Müssen oder Wollen?
  • Was an meinem Perfektionismus ist belastend? Wann macht Perfektionismus Spaß?
  • Woran mache ich es konkret fest, die Aufgabe gut, sehr gut oder perfekt abzuliefern?
  • Reicht es, wenn das Ergebnis lediglich gut oder sehr gut ist?
  • Welche Risiken bestehen, wenn ich die Aufgabe nicht perfekt abliefere? Was darf also auf keinen Fall passieren?
  • Was kann ich tun, um diese Risiken zu vermeiden?
  • Ab wann wäre ich zufrieden, erleichtert oder stolz?
  • Wer außer mir würde es bemerken, wenn ich die Aufgaben nur „gut“ abliefere?

Meilensteine und nächste Schritte

  • Wie lange soll die Aufgabe / das Projekt insgesamt dauern?
  • Wie lautet der nächste Meilenstein?
  • Woran merke ich, dass ich diesen Meilenstein erreicht habe?
  • Wieviel Zeit gebe ich mir, um diesen Meilenstein zu erreichen?
  • Sollte ich diesen Meilenstein weiter unterteilen?
  • Wie lautet der nächste Schritt?
  • Wieviel Zeit gebe ich mir, um diesen Schritt zu erledigen?
  • Könnte ich etwas abgeben? Wenn ja: Was? Wenn nein: Was hindert mich daran?

Präsenz, Achtsamkeit und Konzentrationsfähigkeit

  • Was könnte mir helfen, eine vorherige Situation gut abzuhaken und damit ein Nachglühen zu vermeiden?
  • Welche drei Punkte sollte ich mir aufschreiben, um ein Vorglühen (Denken an die nächste Aufgabe) zu reduzieren?
  • Wieviel Energie möchte ich für die aktuelle Aufgabe einsetzen?

Kreative Pausen

  • Woran merke ich, dass ich eine kreative Pause brauche?
  • Wofür brauche ich eine Pause? Um einen Abstand von einem Problem und damit auf intuitive Lösungen zu kommen oder um wieder frischer im Kopf zu werden?
  • Was konkret mache ich dann? Sollte ich einfach so einen Spaziergang machen oder auf den Spaziergang eine Denkaufgabe mitnehmen?
  • Wie schaffe ich mir einen guten Zwischenabschluss vor der kreativen Pause?