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Krisen als Charaktertest

Wenn Krisen ein Charaktertest sind, wie es häufig beschworen wird, fördern sie sowohl alte als auch neue Seiten in uns. Manchmal werden die alten, bekannten Seiten von uns dominanter als jemals zuvor.

Ein Skeptiker (siehe auch meinen Typenvergleich in der Krise an anderer Stelle) wird noch viel skeptischer, erst recht, wenn diese große Sache kaum zu greifen ist und von einzelnen Wissenschaftlern in ihrer gesamten Dimension erklärt werden kann. Nebenbei: Warum wird uns diese Sache nur von einem einzigen Virologen erklärt und nicht von einer ganzen Reihe von Experten? Kirchenvertreter, Ethiker oder Sozialwissenschaftler könnten doch ebenso eine Primetime bekommen. Der Weg vom Skeptiker zum Verschwörungstheoretiker ist dann nicht mehr weit. Jene, die schon immer mit einem Bein im Realismus verschlingenden Sog der Verschwörungstheorien standen, stehen nun mit beiden Beinen drin und damit kurz vor der Rebellion gegen den Staat, der sie demnächst zwangsimpfen will, inklusive Nanopartikeln. Der Jagdinstinkt eines Machers wiederum wird stärker geschärft. Und ein Optimist wird zum Vogel Strauß.

All das ist altbekannt. Paul Watzlawik würde es vermutlich die Tendenz nennen, in Krisen mehr von dem zu denken und zu zeigen, was wir ohnehin schon denken und tun.

Was jedoch ist mit der Gegenseite, die zu einer inneren Balance führen könnte? Wer von uns entdeckt in sich den inneren Krisenmanager, den Solidariker, den Realisten, der die Welt von morgen weder schwarz noch regenbogenfarben sieht, sondern so, wie sie vermutlich aussehen wird? Glauben wir wirklich daran, dass Bill Gates uns alle zwangsimpfen lässt? Würde er der Welt nicht einen Impfstoff verkaufen wollen, wäre ein schlechter Geschäftsmann. Aber zwangsimpfen unter vorgehaltener Pistole? Und wie realistisch ist es, dass wir nach der Krise alle so geläutert sind, dass wir freiwillig auf Flüge verzichten, um der Umwelt einen Gefallen zu tun? Oder dass wir nun alle viel lieber miteinander umgehen werden? Vermutlich läuft es wie immer. Wir werden uns an manche Dinge gewöhnen. Vielleicht an Polizeidrohnen. Vielleicht sogar an Handytracking. Das mag der eine oder andere bedrohlich finden. Wenn es jedoch eine Mehrheit der Menschen großartig findet, um sich sicherer zu fühlen, nennt man das wohl Demokratie. Vielleicht werden wir tatsächlich häufiger spazieren gehen. Oder unsere Eltern mit anderen Augen sehen. Vielleicht auch nicht. Anderes werden wir schnell wieder vergessen. Immerhin gilt es, ein neues Wirtschaftswunder hochzuziehen.

Der Mensch lebt letztlich im Hier und Jetzt. In die Zukunft zu blicken mit Szenarien und Wahrscheinlichkeiten liegt ihm nicht wirklich. Aus der Vergangenheit zu lernen ist auch nicht gerade eine Domäne des menschlichen Geistes. Und wenn am Ende ein Schnitzel mit Pommes auf dem Tisch steht, scheint wieder alles gut zu sein.

Ob das nun traurig ist oder nicht, mag jeder für sich selbst entscheiden.

Über Vertrauen, Kontrolle und Mündigkeit in Krisenzeiten

Gestern besuchte ich mit meiner Familie eine Kirche. Natürlich fand kein Gottesdienst statt, jetzt in Zeiten der Krise. Wir saßen da und lauschten der Stille. Auf den Bänken lagen Gebete aus. In einem dieser Gebete stand etwas davon, Umstände hinzunehmen und davon, nicht alles kontrollieren zu können. Auf einem Flyer dieser katholischen Kirche stand etwas von “(sinnvollen) Maßnahmen”. Die Kirche übt subtile Kritik? Interessant. Vor allem in einem Bundesland, das von einer Partei regiert wird, das ein C im Namen führt. Ich meine damit nicht das Corona-C, sondern das christliche C.

Die Kirche trifft damit einen Nerv der Zeit und nährt den ewigen Streit zwischen wissenschaftlicher Machbarkeit und geduldigem Vertrauen. Vielleicht ist auch so der Hitler-Vergleich des Papstes (externer Link) mit der Rhetorik aktueller Politiker zur derzeitigen Lage verständlich. Während im religiösen Verständnis das Gebot des Vertrauens auf eine höhere Macht vorherrscht, gehen Virologen, Mediziner oder Epidemiologen davon aus, dass wir alles kontrollieren können. Wir können jede Krankheit wegimpfen. Wir können uns das Leben Untertan machen, natürlich(!) aus “philanthropischen” Gründen.

Vielleicht sind sich Kirchenvertreter dem Darwinismus näher als sie das selber wussten. Darwinistisch wäre schließlich, das Virus wallten zu lassen und Vertrauen in die Natur zu haben. Selbstredend sollte dennoch aus christlicher Nächstenliebe und Solidarität an Stellen wo es nötig ist, geholfen werden. Der Eingriff des Menschen hingegen beinhaltet die Gefahr eines Sozialdarwinismus, der gezielt Einfluss auf die Natur nimmt und damit entscheidet, wer überlebt und wer nicht. Politiker, die derzeit solche Entscheidungen treffen (müssen), sind nicht zu beneiden. Sollen sie alte und gebrechliche Menschen gefährden, um jungen und vitalen Menschen auch morgen noch eine optimistische Zukunft zu bieten, oder nicht? Kein Wunder, dass rechte Seiten, die leicht einem “survival of the fittest” anheim fallen die Maßnahmen lieber heute als morgen komplett zurücknehmen würden. Dennoch stellt sich die Frage, ob wir es wirklich riskieren wollen, die gesamte Generation C (das Alpha und Beta überspringen wir einfach mal) inklusive ihrer Eltern, die gestern noch als systemrelevante Säulen der Gesellschaft galten zu desillusionieren? Die Gefahren eines Vertrauensverlustes in den Staat in umfassenden Schichten der Gesellschaft sind enorm, wenn die Wahrnehmung umher geht, Gelder würden ungerecht verteilt und am Ende überleben ohnehin nur die Großen und Mächtigen.

Mir scheint, das wissenschaftliche Denken der Kontrolle, als wäre die Welt ein Versuchslabor, in dem alle Bedingungen bis hinter die zweite Kommastelle vorberechnet werden, hat in dieser Krise von Tag Eins an die Politik infiziert. Laut Platon gilt jedoch die klare Trennung des Wahren, Guten und Schönen. Das Wahre ist die Wissenschaft. Das Schöne die Kultur, die wir gerade noch haben. Das Gute symbolisiert die Politik.

Gut ist es, ethisch-moralisch zu handeln und nicht nach Vorgaben der Wissenschaft. Gut ist es, bei allem Schutz der Gebrechlichen diejenigen nicht zu vergessen, die ebenso ein Recht auf Zukunft haben. Gut ist es, mutige Entscheidungen zu treffen, deren Folgen nur zum Teil vorhersehbar sind. Kontrolle ist dabei nur selten möglich. Vertrauen ist unabdingbar, um der Hybris der Machbarkeit zu entkommen. Führungskräfte mit Mitarbeitern im Homeoffice erkennen gerade, wie wenig Macht sie aktuell noch ausüben können. Dabei könnte das Vertrauen in den mündigen Bürger helfen. Wenn ich im gleichen Spiegel-Artikel lese, dass Corona-Partys seltener waren als uns vermittelt wurde, dass es jedoch gefährlich ist, wenn die Bürger nur noch zu gut 50% Angst vor dem Virus haben, weil es in Deutschland im Europa-Vergleich zu seltene Todesfälle gibt, wohingegen die Intensiv-Betten noch lange nicht ausgelastet sind, spricht wenig dafür, dass dem gemeinen Bürger Vertrauen in seine Mündigkeit entgegen gebracht wird. Der Bürger scheint jedoch ein Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem zu haben. Ist das nicht ein Grund zum Feiern?

Vielleicht könnte ein Gefühl der Solidarität und des “Wir-schaffen-das” auf einem gemeinsamen neuen Sozialvertrag fußen: Der Bürger vertraut den Maßnahmen des Staates. Und der Staat vertraut auf die Mündigkeit des Bürgers und verzichtet dabei auf eine Rhetorik der infantilisierenden Entmündigung.

Ob das wirklich funktioniert, fragt sich vielleicht jetzt mancher? Nun ja: Es ist eben eine Utopie, ein Wunschtraum. Vielleicht brauchte es ja zu Beginn der Krise eine Angst machende Rhetorik, damit die Bürger den Ernst der Lage erkennen. Vielleicht braucht es jedoch jetzt, in Phase Zwei, eine versöhnende Rhetorik, mit klaren Ansagen und einem empathischen Duktus.

Eltern als Vorbild in der Krise

Was lernen Kinder aus der aktuellen Krise? Werden sie traumatisiert, wenn ihre Eltern Panikkäufe tätigen oder die Medien und Regierung kritisieren? Hilft stattdessen eine Augen-zu-und-Vertrauen-haben-Prophylaxe? Braucht es Eltern, die ihre Chancen nutzen, während andere am durchdrehen sind? Oder wollen wir, dass sich unsere Kinder eine eigene Meinung bilden? Immerhin geht es um das einschneidenste Ereignis unserer Sprösslinge.

Kinder lernen zu 60% über Lernen am Modell. Was also lernen sie von ihren Eltern in der Krise? Schauen wir uns dazu ein paar Modelle an:

Die Optimisten

Es gibt Optimisten, denen die Sonne aus …, Sie wissen schon, scheint. Sie gehen davon aus, dass am Ende alles gut wird. Und wenn nicht, war es eben noch nicht das Ende. Das Vertrauen oder der Glaube in den Staat, die Medien, die WHO, die Wissenschaft oder den eigenen Arbeitgeber ist tief in ihnen verankert. Sie gehen nicht davon aus, dass die Welt zusammenstürzen könnte oder dass eine schwere Rezession kommt. Die Optimisten vermeiden es, zuviel Nachrichten zu schauen. Verschwörungstheoretiker sind Spinner und wenn wir uns jetzt ein wenig zusammenreißen, wird in ein paar Wochen alles wieder gut. Nein! Es wird sogar noch viel schöner. Die Luft wird sauberer. Die Menschen werden klimatechnisch umdenken. Es werden viel mehr Menschen Rad fahren, genau wie jetzt. Wir schaffen das! Und wenn es doch ein bisschen schlimmer kommt, haben Sie immer noch ihr Eigenheim im Grünen, mit Garten und einem festen Job in einem Großkonzern.

Die Vorbildfunktion der Optimisten an ihre Kinder lautet: Denk nicht soviel nach. Hab Vertrauen und alles wird gut. Genieße dein Leben.

Die Macher

Familie Macher ist nicht ganz so sonnenverstrahlt wie die Optimisten. Auch Herr und Frau Macher besitzen ein Häuschen mit Garten, das sie sich hart erarbeitet haben. Auch sie blicken optimistisch in die Zukunft. Sie schauen jedoch mit einem sorgenvollen Auge auf mögliche wirtschaftliche Störungen. Die Rezession könnte kommen. Besser sie bringen ihre Schäfchen ins Trockene. Die Machers machen sich deshalb intensive Gedanken darüber, wie und wo sie ihr Geld in der Krise anlegen könnten. Sie machen sich auch Sorgen um ihre berufliche Zukunft. Deshalb wollen sie nicht abwarten, was passiert, sondern werden selbst tätig. Erst wenn sie wissen, wo die Reise hingehen könnte, ist es möglich sich zu entspannen und die Sonne zu genießen.

Die Vorbildfunktion der Macher an ihre Kinder lautet: Die Welt läuft nicht immer rund. Es gibt Gewinner und Verlierer. Nutze deine Chancen, bevor es andere tun.

Die Kritischen

Die Kritischen müssen offenbar den schweren Weg gehen. Sie blicken skeptisch auf die Welt. Ähnlich wie die Macher glauben sie daran, dass es im Leben grundsätzlich und in Krisen erst recht Gewinner und Verlierer gibt. Herr und Frau Kritisch denken parallel. Sie leben sowohl in einer utopisch-theoretischen Traumwelt, in der allen Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Gleichzeitig befinden sie sich auf dem Boden der Tatsachen, auf dem dies vermutlich nie passieren wird. Damit kämpfen sie für ein Utopia, von dem sie insgeheim wissen, dass es niemals stattfinden wird. Ihr Lebensmotto könnte auf den Satz von Sartre zurückgehen: Man muss sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. Es geht nicht darum, der Welt zu misstrauen, sondern zu akzeptieren, dass die Welt ungerecht ist, manche ihre Interessen durchsetzen und andere nicht, wir jedoch unser Bestes tun, um dies zu ändern. Hierzu passt auch die ursprüngliche Bedeutung von Zynismus: Ich leide wie ein Hund und genieße dennoch das Leben.

Die Vorbildfunktion der Kritischen an ihre Kinder lautet: Bilde dir deine eigene Meinung. Denke dabei stets parallel und halte Widersprüche aus. Man kann sich nie ganz sicher sein. Aber mach, was du kannst, auch wenn es nie genug sein wird.

Die Verschwörungstheoretiker

Während die Kritischen zwischen den Welten hängen und die Parallelität der Widersprüche aushalten, hat sich Familie Verschwörungstheoretiker klar auf eine Seite der Meinungsdeutung geschlagen. Die Welt ist schlecht. Das Vertrauen in die Regierung schon lange zerstört. In die Medien sowieso. Es gibt diverse reiche Strippenzieher, die an unser Gehirn oder unsere Blutbahnen wollen. Die Weltordnung ist beständig in Gefahr. Familie V sucht stetig nach dem Sinn hinter politischen Maßnahmen. Da jedoch bei der Ansprache der Massen zwangsläufig Informationen unter den Tisch fallen, Erkenntnisse noch nicht spruchreif sind und dennoch formuliert werden müssen und die Medien ihren Teil zur Komplexitätsreduktion von Informationen beitragen, geht grundsätzlich ein Teil des Sinns hinter einer Maßnahme bewusst oder unbewusst verloren. Diese Lücke will mit Sinnhaftigkeit gefüllt werden. Auf der Basis des Misstrauens kann dies nur negativ ausfallen. Ein Misstrauen, dass leider aufgrund der Tatsache, dass manche Verschwörungstheorie im Nachhinein einige Wahrheiten beinhaltete, stetig Futter bekommt.

Die Vorbildfunktion der Verschwörungstheoretiker an ihre Kinder lautet: Die Welt ist von Grund auf böse. Sie wird sich auch nicht verändern lassen, höchstens durch eine umfassende Revolution. Misstraue jedem und kämpfe für das, an was du glaubst.

Natürlich gibt es auf der Basis dieser vier Typen diverse Mischtypen. Niemand ist nur Verschwörungstheoretiker, Macher, Kritiker oder Optimist. Dennoch stellt sich die Frage, was wir als Eltern unseren Kindern vermitteln wollen:

  • Ein Vertrauen in die Welt,
  • das Vertrauen in sich selbst,
  • eine kritische Meinung
  • oder ein Misstrauen in die Welt?

… und ob wir damit, was wir vermitteln zufrieden sind.

Anliegen und Sorgen vs. Verschwörungstheorien

Das Internet ist derzeit voller Verschwörungstheorien, vermeintlichen Aufdeckungen und dem Kampf dagegen mittels Fakten-Checkern. Google spendiert aktuell über 6 Millionen Euro an Startups oder bereits etablierte Seiten im Netz zur Aufdeckung von Fake News. Eine zeitlang hatte ich das Gefühl, die ARD ist mehr damit beschäftigt, Verschwörungstheoretiker zu entlarven als tatsächlich Nachrichten zu vermitteln. Das ganze mutet sehr nach einem Kampf um die Meinungshoheit an.

Wie im Krieg gibt es bei Kämpfen selten Gewinner. Der Krieg um die Wahrheit lässt sich ohnehin nicht gewinnen, zumal in jeder Falschnachricht ein Fünkchen Wahrheit steckt und in jeder offiziellen Nachricht etwas verschwiegen wird. Und Wahrheiten bezüglich einer szenarischen Zukunft werden erst in einigen Monaten oder sogar Jahren falsifiziert oder verifiziert. Ein Fakten-Check, der auf Szenarien in der Zukunft angewandt werden kann, muss erst noch erfunden werden. Diejenigen jedoch, deren Beiträge auf Youtube gelöscht werden, fühlen sich bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg sind: “Die sagen uns nicht die (ganze) Wahrheit.” Und diejenigen, die gegen Fake News vorgehen, fühlen sich selbstredend ebenso bestätigt: “Die sind einfach unbelehrbar.”

Damit schaukelt sich der Kampf um die Wahrheit so lange hoch, bis er entweder explodiert oder implodiert. Eine Implosion wäre für die Gesellschaft vielleicht verkraftbar, auch wenn ich mir ernsthafte Sorgen mache um all die Menschen, die aktuell kein Gehör finden. Wollen wir wirklich die Menschen (eine Schätzung fällt schwer, aber mir dünkt, es seien viele), die Verschwörungstheorien anhängen an den medialen Pranger stellen? Können und wollen wir uns das leisten als Gesellschaft, die auf den Grundfesten der Meinungsvielfalt beruht? Sind wir ernsthaft damit zufrieden, Menschen, die sich Sorgen um den Rechtsstaat machen wegzusperren oder medial mundtot zu machen?

Eine Explosion könnte ebenso fatale Folgen haben. Ich spreche nicht von einer Revolution auf der Straße, auch wenn wir nach der Lockerung sicherlich einiges zu sehen bekommen werden. Da wird so manches Pegida-Revival dabei sein. Und mancher wird sich wundern, wer neben ihm demonstriert. Aber was wäre, wenn all diese Unzufriedenen in der kommenden Wahl ihrer Unzufriedenheit mit einem Kreuz Luft machen würden? Ist dieses Risiko wirklich kalkulierbar? Wer ein wenig im Internet surft oder allgemein die Augen und Ohren offen hält, merkt, dass die Unzufriedenheit nicht nur von den üblichen Verdächtigen kommt, sondern von ganz normalen Soloselbständigen, Gaststättenbesitzern, Zwangsrentnern, Künstlern, Kleinstunternehmern, Handwerkern, Familienmenschen, usw. Wollen wir diese breite Masse der Menschen, die sich aktuell Sorgen um ihre Zukunft machen, wirklich an Verschwörungstheoretiker verlieren? Wen werden sie wählen, wenn sie jetzt kein Gehör bekommen?

Der mediale Kampf zwischen Verschwörungstheorie- und Regierungsanhängern vertieft Gräben, die ohnehin vorhanden sind. Es gibt die Denke, dass jetzt nicht die Zeit wäre, aufeinander zuzugehen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es nach den ersten Schockwellen der Krise überhaupt noch möglich ist, die Wunden zu heilen, die jetzt aufgebrochen sind?

Das Vertrauen in den Staat, die Hin- und Her-Kommunikation um Verdopplungszahlen, Masken und Tests wirft ein schlechtes Licht auf die Regierung. Medien, die einseitig berichten, verspielen gerade ihre Rolle als Medium und Moderator, als Vermittler in diesem Kampf um die Meinungsdeutung. Während früher lediglich rechtsgerichtete Menschen von Systemmedien sprachen, kommt diese Kritik mittlerweile aus einer Ecke (externer Link), aus der wir das nie vermutet hätten. Der Ethikrat spricht von einem Obrigkeitsstaat, wenn Diskussionen nicht auf eine breite gesellschaftliche Basis gestellt werden.

Würden wir anfangen, Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen, endlich aus dem Dunkel des Unheimlichen herauszuholen und zu akzeptieren, dass dahinter echte Sorgen und Anliegen stehen, wäre bereits viel getan. Wer die Maßnahmen der Regierung kritisiert, ist noch lange kein Feind der aktuellen Vorgehensweisen, sondern macht sich vielleicht Sorgen um seine Gesundheit. Für Vampire ist die Sonne ungesund. Für uns Menschen gilt das Gegenteil. Wer sich Sorgen um Kindeswohlgefährdungen und depressive alte Menschen macht, wünscht sich, dass der Ethikrat mehr Gehör in einem Expertenrat findet. Wenn er nun sieht, dass im bayerischen Expertenrat wieder nur ein Virologe, Arzt und Epidemiologe sitzt, fühlt er sich abgehängt. Kein Wirtschaftswissenschaftler, kein Psychologe, kein Kirchenvertreter, kein Ethiker, kein Sozialwissenschaftler. Und wer aktuell als Selbständiger keine Aufträge bekommt, findet es befremdend, wenn über den Exit aus dem Shutdown nicht gesprochen werden darf. Er hält vielleicht noch einen Monat durch. Aber was dann?

Der Mensch braucht Ziele zur Motivation. Der Mensch sucht beständig nach einem Sinn. Wenn er diesen Sinn lediglich über eine spekulative Kurve bekommt, deren Zahlen ungesichert sind (externer Link), jedoch nicht weiß, ob er das Ende der Kurve überhaupt erleben wird, sucht er sich seinen Sinn anderswo.

Politik in der Krise funktioniert über klare Entscheidungen. Ich bin froh, derzeit kein Politiker zu sein. Sie funktioniert aber auch über Signale und ein Zugehen auf den medialen “Gegner”. Es wäre an der Zeit, Kritiker an Bord zu holen, um Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

(Update 08.04.: Mittlerweile wurde der Expertenrat erweitert und breiter aufgestellt.)

Digital vs. Analog

In der digitalen Welt gibt es nur Schwarz oder Weiß. Gut oder Böse. Die digitale Welte lebt davon zuzuspitzen zwischen Verschwörungstheorien und Naturwissenschaftsgläubigkeit.

In der analogen Welt gibt es alle Grautöne, alle Farben, gut, mittelgut, böse und schrecklich böse. In der analogen Welt erscheinen Nischen, die es im Digitalen nicht gibt. Die analoge Welt ist pure Geisteswissenschaft in all ihren Facetten und Ausprägungen. Komplex und voller Wunder. Und auch der Mensch in ihr ist in all seinen Nuancen und Widersprüchen wunderschön.

Manches scheint in der digitalen Welt einfach nicht möglich bzw. aktuell erlaubt zu sein. Zum Beispiel mit Freunden zu sprechen, die man zufällig auf dem Spaziergang trifft, selbstredend vollkommen ungeplant. Das wäre schließlich in Bayern bußgeldbedürftig.

In der analogen Welt geht das. Das geht! Wenn niemand es sieht. Ich habe es selbst beobachtet. Die Menschen halten sauber Abstand. Aber sie unterhalten sich. Aus fünf Metern Entfernung. Beinahe wie früher. Wahnsinn!

In der digitalen Welt wäre demonstrieren, selbst wenn der gebotene Sicherheitsabstand eingehalten wird, nicht erlaubt. Zumindest gilt demonstrieren nicht als offizieller Grund, die Wohnung zu verlassen. Außer ich kann der Polizei glaubhaft vermitteln, als Hauptberuf Demonstrant gelernt zu haben.

In der analogen Welt gibt es Polizisten mit moralischem Anstand, die sagen: Passt schon. Stört mich nicht. Machen Sie einfach. Finde ich sogar gut. Warum auch nicht? Wenn sich das mit dem Spaziergang vereinbaren lässt …

In der digitalen Welt herrscht ein Meinungskrieg.

In der analogen Welt scheint die Sonne. Ach, wie versöhnlich ist doch die Welt dort draußen jenseits von Black Mirror.

In diesem Sinne möchte man den Menschen zurufen: Haltet euch an die Regeln, und dann: “Go out, stay healthy!”

Aber schließt vorher eine Rechtschutzversicherung ab. Man weiß ja nie.