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Täter-Opfer-Dynamiken

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Das Täter-Opfer-Prinzip

Das Täter-Opfer-Prinzip besteht im Kern darin, dass eine Person oder eine ganze Gruppe von Personen an einem Zustand schuld ist, den eine andere Person oder eine ganze Gruppe zu erleiden hat. Wer sich als Opfer betrachtet, hat Angst vor dem Täter. Wird diese Angst weiter befeuert, beispielsweise indem ganze Gruppen als vermeintliche Opfer und Täter aufeinander treffen, was in digitalen Netzwerken häufig passiert, entsteht eine Gruppendynamik, in der aus der Angst schnell Wut mit aggressiven Schuldzuschreibungen wird.

Es erscheint in vielen Situationen im ersten Moment nachvollziehbar, nach einem Täter zu suchen. Schuldige an einem Dilemma zu finden, schafft einen konkreten Fokus für den eigenen Ärger. Auf den zweiten Blick gibt es diese Schuldigen jedoch häufig nicht, zumindest nicht direkt. Hier entstehen also direkte Verbindungen zwischen einem vermeintlichen Opfer und einem vermeintlichen Täter, die im Ursprung nicht bestehen oder zumindest systemisch wesentlich komplexer sind.

Sowohl in der Corona-Pandemie als auch in der Umweltthematik entstanden und entstehen Schuldzuweisungen. Maßnahmenkritiker galten als potentiell schuldig am Tod anderer. Und Politiker und Wissenschaftler*innen, die mit Hilfe der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus eben jene vulnerablen Gruppen schützen wollten, galten in den Augen mancher Kritiker als Totengräber der Demokratie unter dem Deckmantel der Gesundheit. Dazu wurde bereits mehr als genug geschrieben. Der große Schuldige war jedoch das unbekannte und damit unkalkulierbare Virus. Auf etwas Unsichtbares lassen sich Aggressionen allerdings schwer projizieren.

Ein ähnliches Prinzip passiert nun mit der Umweltthematik: Die Umweltaktivist*innen beschuldigen die Politik als Täter einer untergehenden Welt, wohingegen manche Politiker*innen Klimaaktivist*innen geradezu als Staatsfeinde betrachten, obwohl diese durchaus legitime Ziele (von den Mitteln einmal abgesehen) verfolgen.

Ein kurzer Blick auf die Interessenkonflikte innerhalb der Ampelregierung macht jedoch deutlich, wie kompliziert Politik ist. Die Politik könnte sich sicherlich mehr für Umweltbelange einsetzen. Sie muss jedoch auch aufpassen, die Gesellschaft nicht zu spalten. Dies könnte sich spätestens bei der nächsten Wahl rächen. Auch in diesem Fall ist sie kein Täter im Ursprung des Begriffs. Hierzu passen schon eher manche Industriezweige von Bau bis Verkehr. Aber auch diese sind schwer als Täter greifbar. Und der einzelne Verkehrsteilnehmer ist ebenso kein Täter im klassischen Sinn, sondern wird zur Projektionsfläche der Klimakleber*innen.

Wenn Dynamiken eskalieren

An diesen Beispielen lässt sich gut verdeutlichen, wie schnell jemand, der zuvor Opfer war oder sich als Opfer empfand, selbst zum Täter werden kann. Die Klimaaktivist*innen betrachten sich als Opfer einer fehlgeleiteten Politik. In dem Moment, in dem sie Straßen blockieren, werden sie jedoch selbst zum Täter. Die Autofahrer wiederum betrachten sich als Opfer, wenn sie im Stau feststecken und mittlerweile werden auch einige handgreiflich und werden damit selbst zum Täter.

In der Transaktionsanalyse gibt es zur Erklärung dieser Dynamiken die drei Rollen Opfer, Täter und Retter. Das Opfer kann unterwürfig, trotzig oder freigeistig sein. Entweder es ordnet sich unter und ergibt sich in sein Schicksal. Oder es lehnt sich auf. Oder es ignoriert alles und geht seinen eigenen Weg. Der Täter kann dominant oder vermeintlich fürsorglich sein. Der Retter wiederum schützt das Opfer vor dem Täter. Doch wer spielt in diesem Beispiel den Retter?

Letztlich wandert auch diese Rolle munter durch die Reihen: Während die Aktivist*innen sich selbst zu Beginn entweder als fürsorglicher Täter oder Retter des Klimas und damit auch der Bürger*innen (als Opfer) vor der Politik (den Tätern) betrachtete, merkten sie schnell, dass viele vermeintliche Opfer sich gar nicht retten lassen wollen. Die Opfer ergaben sich nicht in Demut und Dankbarkeit, sondern begehrten auf. In dem Moment wurden die Retter zu dominanten Tätern und die trotzigen Opfer wie dargestellt zu Tätern. Die Polizei versucht ebenso die ehemaligen Opfer (die Autofahrer) vor den Tätern (den Klimaklebern) zu retten, wird dabei jedoch auch ein ums andere mal zu dominanten Tätern. Wir sehen: Es ist kompliziert. Klar wird jedoch eines: Sobald wir uns auf diese Rollendynamik einlassen, ist eine gesellschaftliche Eskalation nicht mehr weit.

Einen probaten Ausweg aus dieser Dynamik bietet uns die 4. Rolle aus der Transaktionsanalyse: Erwachsen werden und sich ohne gegenseitige Schuldzuweisungen auf Augenhöhe begegnen.

Opfer versus Empowerment

Ein Opfer will oder muss vor etwas oder jemandem beschützt werden. Damit wird jedoch die Handlungsfähigkeit dieses Menschen beschnitten. Kein Wunder, dass manche vermeintlichen Opfer aggressiv auf diese Zuschreibung reagieren. Anders formuliert: Solange ein Mensch sich nicht als Opfer betrachtet, wird der Blick geweitet für die Möglichkeiten, die sich ihm selbst als Selbstschutz bieten. Bei einer Bedrohung wie durch Covid kann dies zusätzlich unterstützt werden durch solidarische Maßnahmen derjenigen, die weniger bedroht sind, um eine gesunde Balance aus Selbst- und Fremdschutz herzustellen. Der Mensch fühlt sich damit nicht zu 100% abhängig von anderen, was der eigenen Psyche und dem eigenen Immunsystem zugute kommt.

Im Rahmen der Umweltthematik wäre es vermutlich ebenso sinnvoll, aus der Täter-Opfer-Dynamik mit gegenseitigen Beschuldigungen (Umweltzerstörer versus Klimaterroristen) auszusteigen, um eine produktive Sichtweise zu gewinnen, was jede*r Partei in der aktuellen Situation beitragen kann.

Ein möglicher Ausstieg aus Täter-Opfer-Dynamiken

Das Täter-Opfer-Prinzip geht davon aus, dass Differenzen schädlich sind: Was der Eine kann, wird dem Anderen zum Verderben. Ist der Eine stark, fühlt sich der Andere bedroht. Weiß der Eine etwas, scheint dem Anderen dieses Wissen zu fehlen. Ist der Andere hingegen schwach, muss der Eine aufgrund dessen Schwäche leiden und zurückstecken.

Differenzen können jedoch auch verbindend wirken, wenn sie als Ergänzung wahrgenommen werden. Was der Eine kann und weiß, kann auch dem Anderen helfen. Und vielleicht lässt sich auch aus der vermeintlichen Schwäche des Anderen etwas lernen. Damit hätten wir jedoch keine mechanische Solidarität unter Gleichen, sondern eine organische Solidarität unter Verschiedenen.

Um dahin zu kommen, sollten wir damit beginnen uns gegenseitig zuzuhören und wertfrei wahrzunehmen, welche Ängste unser Gegenüber hat, bevor es zu Wut-Projektionen kommt. Auf dieser Basis lässt sich dann auch das Können und Wissen austauschen, um gemeinsam an den erkannten Gegensätzen und Differenzen zu wachsen.

Unser Menschenbild

Die Beschäftigung mit unserem Menschenbild lässt mich nicht los. Die Krise zeigt uns, was tief in uns verborgen ist und nur ab und an unter Stress über die Wasseroberfläche lugt. In der Krise wird aus dem Lugen ein kraftvoller Sprung aus dem Wasser. Politiker und Bürger zeigen, wie ihr Menschenbild wirklich aussieht. Haben wir ein positives oder negatives Menschenbild? Mindestens ebenso spannend: Haben wir Vertrauen in Systeme, respektive unseren Staat?

Wer ein negatives Menschen mitbringt und Systemen ebenso kein Vertrauen schenkt, hat Angst davor, in Systemen unterzugehen oder davor, dass dass mächtige Menschen das System ausnutzen.

Wer ein negatives Menschenbild mitbringt, jedoch Vertrauen in Systeme hat, wird versuchen, diese selbst zu nutzen, um den bösen Menschen in seine Schranken zu verweisen. Das Prinzip ist einfach: Der Mensch ist schlecht und muss durch soziale Kontrollen reguliert werden. Damit sind wir beim Bild des Leviathans angekommen.

Wer andererseits ein positives Menschenbild vertritt, jedoch Systemen kein Vertrauen entgegen bringt, glaubt zwar an das Gute im Menschen, allerdings auch daran, dass Systeme den Menschen korrumpieren können, indem sie die Lust an der Macht über andere wecken oder zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst führen, wenn er sich in Aufgaben und Rollen verliert.

Wer schließlich ein positives Menschenbild vertritt und an Systeme glaubt, geht davon aus, dass sie die guten Potentiale des Menschen erst richtig fördern.

Entsprechend unterschiedlich fallen die Glaubenssysteme der vier Quadranten aus:

Wenn wir uns anschauen, welche Menschen sich in den vier Quadranten wieder finden, stoßen wir auf entsprechend unterschiedliche Typen: Die einen ziehen sich von der Welt zurück oder ordnen sich unter. Die anderen nutzen Systeme, um ihre Dominanz auszuspielen. Die dritten träumen den Traum von einer Welt, in der das Individuum in der Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommt. Und die letzten hätten am liebsten so wenige Freiheits-Beschränkungen wie möglich.

All dies führt zu gänzlich unterschiedlichen Verhaltenskonsequenzen:

Wir können nicht einfach aus unserer Haut. Dennoch drängt sich durch die bewusste Beschäftigung mit unserem Menschenbild und unserer Sichtweise auf Systeme die Frage danach auf, ob wir zufrieden damit sind, wie wir die Welt sehen. Oder ob wir etwas daran ändern wollen? An unserer Sicht und an unserem Umgang miteinander?

Ich persönlich habe definitiv mehr Vertrauen in Menschen als in Systeme. Dennoch gibt es Systeme, die eine großartige Arbeit leisten und in denen weniger freiheitsliebende Menschen einen Platz bekommen, zu sich selbst zu finden.