Kama muta kommt aus dem Indischen und bedeutet soviel wie Ergriffenheit oder Bewegt-Sein, ab und an auch Rührung. Ein Gefühl, das bislang wenig erforscht wurde.1
Ergriffenheit und Mut
Ergriffenheit hat eine persönliche und soziale Komponente. Wir sind ergriffen, wenn wir beobachten, wie jemand seine Ängste überwindet und etwas für diese Person Mutiges tut. In diesem Fall wirkt die Person, die wir beobachten wie ein Vorbild. Was hier genau passiert und wann dieses Vorbild besonders eindrücklich auf uns wirkt, lässt sich anhand der Heldenreise verdeutlichen:
- Die Person befindet sich in einem Status Quo-Zustand.
- Sie wird mit etwas konfrontiert, auf das sie reagieren sollte.
- Sie weigert sich jedoch aufgrund innerer Ängste. An dieser Stelle baut sich für die Zuschauer*innen Verständnis auf: Zögern wir selbst nicht auch häufig und sollten oftmals handeln, trauen uns jedoch nicht, weil wir dann scheitern könnten?
- Der Zustand wird immer schlimmer, bis sie schließlich den Mut aufbringt, über sich hinauszuwachsen und (re)agiert. Dies ist der Moment der Ergriffenheit. Die Person handelte stellvertretend für uns und bietet uns damit ein positives Vorbild.
Die Heldenreise geht noch weiter (Abenteuer, Erkenntnisse, inneres Wachstum), ist jedoch für unser Beispiel nicht mehr so relevant.
Ergriffenheit und Solidarität
Wenn wir an Filme denken, die uns besonders ergreifen, steht meist „Club der toten Dichter“ ganz oben auf der Liste. Insbesondere die Szene, in der der Deutsch-Lehrer (Robin Williams) gekündigt wird und nacheinander die Schüler des geheimen Literatur-Clubs auf die Tische steigen und skandieren: „Oh Captain, mein Captain“. Die Schüler zeigen Mut, weil sie selbst mit negativen Konsequenzen rechnen müssen.
Die Szene zeigt jedoch noch etwas Anderes, das charakteristisch für Ergriffenheit ist: Die Solidarität der Schüler mit ihrem Lehrer. Ergriffenheit hat also nicht nur eine individuelle, sondern auch eine soziale und damit verbindende Komponente.
Trauer regt zum Nachdenken an
Die Basisemotion hinter dem Bewegt-Sein oder der Ergriffenheit ist die Trauer. Trauer wiederum ist eine in sich gekehrte Emotion, die uns dazu bringt, uns erst einmal von der Welt abzuschotten. Die Trauer zeigt uns an, dass etwas schmerzhaft ist oder wir bzw. die Figur, die wir beobachten einen Verlust erleidet. Damit bahnt sie uns den Weg, über etwas oder uns selbst nachzudenken:2
- Kenne ich solche Situationen in meinem Leben?
- Woran leide ich selbst?
- Wie hätte ich mich in der Situation verhalten?
- Wofür oder für wen würde ich mich einsetzen?
Mut aktiviert
Die Trauer alleine zu empfinden wäre jedoch wenig attraktiv. Wer möchte schon traurig sein? Vermischt sich die Trauer jedoch mit dem anteilig empfundenen Mut, über sich hinauszuwachsen oder zu sehen, wie anderen geholfen wird, wird daraus etwas Positives. Filme, die uns bewegen, klingen noch tagelang nach, weil sie uns genau in dieser Mischstimmung hinterlassen: Sie stimmen uns ein wenig traurig und regen zum Nachdenken an, beinhalten jedoch auch positive Aspekte wie Ermutigung, Anteilnahme oder Zuversicht.
Held*innen des Alltags
Von Filmen ergriffen zu werden ist die eine Sache. Doch wie sieht es im privaten oder beruflichen Alltag aus?
Da ich v.a. mit Führungskräften arbeite, liegt es für mich nahe, das Helden-Schema auch auf Führung zu übertragen. Dabei wird deutlich, dass authentische Führungskräfte, die zum einen ihre Zweifel offen machen, zum anderen aber auch einen Weg aufzeigen, die eigenen Unsicherheiten zu besiegen und mutige Entscheidungen zu treffen, in der Regel gute Vorbilder für ihre Mitarbeiter*innen sind.
Das gleiche gilt freilich für alle privaten Held*innen des Alltags. Wäre uns bewusster, welche Rolle wir als Vorbild für andere Menschen spielen, würde es uns vielleicht leichter fallen, ab und an ein klein wenig die Welt zu retten:
- Wir würden Minderheiten in der Öffentlichkeit mehr in Schutz nehmen.
- Eltern ließen ihre Kinder an ihren Zweifeln teilhaben und ihnen durch ihr Vorbild Wege aufzeigen, wie auch sie mit Ängsten und Unsicherheiten umgehen können.
- Mitarbeiter*innen würden untereinander ehrlicher austauschen als es häufig der Fall ist, wie es ihnen geht und welche Lösungen sie im Umgang mit Belastungen gefunden haben.
Vielleicht könnten wir alle ein wenig mehr zum Vorbild für andere werden und damit die Welt ein klein wenig zu einem besseren Ort machen.
1Vgl. Verena Kast: Vertrauen braucht Mut, S. 101ff
2Vgl. Anne Bartsch: Emotionen, Ergriffen-Sein und Erkenntnis, in: Televizion Nr. 24/2011: https://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/24_2011_1.htm