Bevor ich das Geheimnis hinter der provokativen Aussage ‚Wissenstransfer ist sexy‘ lüfte, muss ich ein wenig weiter ausholen, indem ich erläutere, wie unsere täglichen Interaktionen aussehen.
50% unseres täglichen Miteinanders bestehen aus dem Austausch von Geschenken, d.h. Tätigkeiten oder ‚Dienstleistungen‘, die freiwillig erbracht und nicht bezahlt werden wie z.B. Hausarbeiten oder auch dem Austausch von Wissen. Die anderen 50% bestehen aus dem Austausch von Waren bzw. Tätigkeiten und Dienstleistungen, für die bezahlt wird. Die Unterschiede dieser beiden Arten der Interaktion gehen deutlich aus einem Vergleich hervor:
Geschenke funktionieren nach dem Prinzip des egoistischen Altruismus: Ich leiste etwas, das ich sehr gut kann. Ich kann es mir zeitlich oder finanziell leisten, diese Zusatzleistung für andere zu erbringen und baue mir so ein Netzwerk der Gegenseitigkeit auf. Ich rechne zwar nicht sofort mit einer Gegenleistung. Stellen Sie sich vor, Sie würden einem Freund beim Umzug helfen. Es wäre doch sehr seltsam, dafür am Ende bezahlt zu werden. Sie erwarten allenfalls am Abend eine Pizza, aber mehr erstmal nicht. Langfristig jedoch rechnen Sie natürlich bewusst oder unbewusst mit einer Wiedergutmachung, v.a. dann, wenn Sie Hilfe brauchen. Dieser Austausch von Tätigkeiten mit einer zeitlich verschobenen Zurückzahlung schweisst unsere Welt stärker zusammen, als es die anonyme Marktwirktschaft jemals schaffen könnte.
Geschenke verpflichten uns im Sinne eines sozialen Netzwerks über die Familie hinaus, während der Markt uns lediglich mit einer Masse an täglichen Ge- und Verbrauchsgegenständen versorgt. Der Vorteil daran: Ich kann jederzeit, ohne den Zwang einer Wiedergutmachung kaufen, was mir beliebt. Zudem erscheint auf den ersten Blick der Austausch von Waren eine faire Sache: Alle bezahlen gleichviel. Der Preis einer Ware ist schließlich nicht von den kaufenden und verkaufenden Personen abhängig, sondern vielmehr von einer Masse unsichtbarer Faktoren wie gesellschaftlichen Stimmungen, Angebot und Nachfrage, Fußballergebnisse, politische Beziehungen, usw.
Doch dieser Vorteil greift nur bei festen Waren und unpersönlichen Dienstleistungen. Für viele andere Tätigkeiten, z.B. im Wissenschaftsbereich, erscheint der Warenbegriff wenig praktikabel. Stellen Sie sich vor, das Wissen um bestimmte Garzeiten eines Gerichts wäre exklusiv. Sie würden daher dieses Wissen nicht einmal käuflich erwerben können, da ja dann die (berechtigte) Gefahr bestünde, dieses Wissen weiterzugeben. Sie müssten also immer, wenn sie kochen wollen, jemanden kommen lassen, der dies für Sie erledigt. Noch dazu müssen Sie vertrauen in diesem jemand haben, dass er auch in Ihrem Sinne handelt. Wenn das Wissen über Garzeiten jedoch frei verfügbar ist, werden Massen von Menschen dieses Zeiten testen und gegebenenfalls modifizieren. Vertrauen ist folglich nicht mehr nötig.
Waren sind jedoch nur einmal vorhanden. Wenn sie verkauft werden, sind sie weg. Wissen hingegen kann immer wieder weitergegeben werden. Es kann 1 zu 1 kopiert werden und wird dadurch eher noch wertvoller bzw. wird an verschiedene Eventualitäten (Herd, Kochgut, Kopftopf, …) angepasst, wie das Beispiel der Garzeiten zeigt. Ein gutes Beispiel eigentlich aus der Warenweltsind Open Source-Plattformen. Hier arbeiten Programmierer an Programmen wie Open Office oder Linux. Umsonst? Nein! Doch statt Geld bekommen sie Anerkennung und Prestige in der Welt des Wissens. Dafür dürfen sie freilich nicht anonym bleiben. Wissensaustausch muss immer in der Öffentlichkeit stattfinden. Ansonsten gibt es keine Lorbeeren. Der Wissensaustausch ist folglich wie geschaffen für den Aufbau persönlicher Netzwerke. Netzwerke, die ganz konkret dazu führen, sich sogar in naher Zukunft einen Job zu verschaffen. Ein Beispiel: Katrin Bauerfeind hat ihre Karriere im Internet mit der Satire Ehrensenf begonnen (als Geschenk für jeden, der Youtube schaut). Kurz darauf wurde sie im Fernsehen (u.a. bei Harald Schmidt) bekannt. Daher kann Altruismus im Kultur-, Kreativ- und Wissensbereich immer auch als Visitenkarte betrachtet werden.
Und wie schaut es mit der Leistung dieser ‚Geschenke‘ aus? Kann ich professionell, d.h. von bezahlten Entwicklern erstellten Programmen nicht mehr vertrauen als den Erzeugnissen von Hobby-Programmierern?
Stellen Sie sich einfach vor, Sie würden 8 Stunden am Tag ein Programm entwickeln. Ihren Lohn bekommen Sie so oder so. Ab und an kommt zwar Ihr Chef vorbei und macht ein wenig Druck. Aber Lohnkürzungen sind doch eher selten. Stellen Sie sich nun alternativ dazu vor, Sie würden sich nach Feierabend, weil es Ihnen Spaß macht, an den Computer setzen und versuchen das Problem eines bereits vorhandenen Programms zu lösen. Was wäre, wenn Sie es lösen könnten? Als erster? Geld gibt es keines. Aber Ehre und Ruhm in der ‚Community‘. Welches Szenario würde Sie selber mehr motivieren?
Wenn wir dieses Szenario auf Firmen übertragen, kommt noch ein entscheidender Faktor hinzu: In einem 100-Personen-Unternehmen verfügt ein Mitarbeiter sagen wir der Einfachheit halber über 1% exklusives Firmenwissen. Dieses Wissen exklusiv zu halten hat den egoistischen Vorteil, es einzusetzen, um seine Karriere voranzutreiben. Wenn Mitarbeiter ihr Wissen jedoch weitergeben, öffnen sie damit die Pforten, dass andere ihr Wissen auch preisgeben, wodurch langfristig bestenfalls alle über alles Wissen verfügen werden. Damit wird der egoistische Vorteil für einen gemeinschaftlichen Vorteil geopfert. Und mehr noch: Ich alleine würde mit meinem isolierten Wissen vielleicht kurzfristig Karriere machen. Langfristig jedoch ist es ebenso egoistisch, Wissen zu teilen, um wiederum …
- an weiteres Wissen zu kommen,
- die Qualität und Stabilität der Wissensbasis zu erhöhen, indem andere Mitarbeiter das Wissen kontrollieren, in andere Zusammenhänge bringen und damit evaluieren und
- damit das Unternehmen selbst langfristig stabilisieren und so zur Erhaltung des eigenen Arbeitsplatzes führen.
Wenn das mal nicht zutiefst egoistisch ist?
Damit sehen wir, dass der Austausch von Wissen wichtig ist, um Unternehmen am Leben zu erhalten. Das klingt zwar logisch, aber nicht unbedingt sexy! Folglich muss es laut meiner Eingangsthese noch etwas anderes geben: Und damit sind wir bei dem Thema Altruismus als Überschussaktion: Wenn ich es mir leisten kann (und intelligent genug bin), die Zeit aufzubringen, indem ich anderen mit meinem Wissen bei deren Problemen helfe, zeugt dies von einem Energieüberschuss und wirkt damit als Signal für große Potentiale und langfristig als Visitenkarte und Empfehlung für Höheres. Ursprünglich empfehlen sich Menschen auf diese Weise anderen Menschen, um bewundert zu werden, bestenfalls von einem oder einer (möglichen) Partner/in. Bei (börsennotierten) Kurzzeitbeziehungen wirken risikoreiche Aktionen attraktiver. Bei langfristigen Aktionen allerdings wirken altruistische Aktionen attraktiver (und damit sexyer).
So weit so gut. Altruismus – und sein Wissen anderen freiwillig als Geschenk preiszugeben – besitzt also im Rahmen einer langfristigen Beziehung einen gewissen Sexappeal. Ergo sollte es das natürlichste auf der Welt sein, Wissen freigiebig zu teilen. Doch wie wir alle wissen, ist dem nicht so. Woran das liegt, wird Gegenstand eines anderen Artikels in naher Zukunft sein.
Dennoch können uns Populationsentwicklungsstudien versöhnlich stimmen: Nehmen wir zwei Abteilungen in einem beliebigen Unternehmen. In der einen Abteilung gibt es mehr Altruisten, in der anderen mehr Egoisten. Die Folge: die altruistische Abteilung wird wesentlich schneller wachsen und mehr Erfolge einheimsen als die egoistische, da untereinander mehr Vertrauen herrscht, wodurch Prozesse schneller ablaufen (u.a. durch weniger Kontrollen). Zwar werden auch innerhalb dieser Gruppe Egoisten zunehmen, um bei den Altruisten zu wildern, wodurch Egoisten langfristig prozentual zunehmen werden. Dennoch werden insgesamt, d.h. in beiden Gruppen zusammengenommen langfristig zahlenmäßig mehr Altruisten hinzukommen. Ganz nebenbei zeigt sich auch: Wer es schafft, innerhalb einer Horde von Egoisten als Altruist einen guten Stand zu haben, verfügt offensichtlich über eine ganze Menge Kraftreserven, was ihn auch wieder sexy erscheinen lässt. Es lohnt sich also, auf der richtigen Seite zu stehen.
Literatur: Tor Norretranders – Über die Entstehung von Sex durch generöses Verhalten